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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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nehmen könne, wie er es damals gedacht hatte. Seine ehrgeizigen Pläne waren wieder in den
    Hintergrund getreten, und da er sich sagte, daß er nun doch einmal jenen Kreis der Tätigkeit verlassen hatte, in
    dem alles in bestimmter Form geregelt war, so überließ er sich ganz seinem Gefühle, und dieses Gefühl fesselte ihn
    immer fester und fester an Anna.
    Als er noch im Vorzimmer war, hörte er ihre sich entfernenden Schritte. Er schloß daraus, daß sie auf ihn
    gewartet, nach jedem Geräusche auf der Straße hingehorcht hatte und nun in den Salon zurückging.
    »Nein«, rief sie, als sie ihn erblickte, und beim ersten Worte, das sie sprach, traten ihr die Tränen in die
    Augen, »nein, wenn das so weitergeht, so geschieht es noch viel, viel früher!«
    »Was hast du, liebe Anna?«
    »Was ich habe? Ich warte, ich martere mich schon eine Stunde lang, zwei Stunden lang ... Nein, ich will dir
    keinen Vorwurf machen! Ich kann dir keinen Vorwurf machen. Es ist dir gewiß nicht früher möglich gewesen. Nein, ich
    will dir keinen Vorwurf machen!«
    Sie legte ihre beiden Hände auf seine Schultern und sah ihn lange mit einem tiefen, entzückten und zugleich
    forschenden Blicke an. Sie betrachtete jeden Zug seines Gesichts, um sich für die lange Zeit, da sie ihn nicht
    gesehen hatte, schadlos zu halten. Wie bei jedem Wiedersehen verglich sie das Bild, das sie sich in Gedanken von
    ihm gemacht hatte (ein unvergleichlich schöneres, in der Wirklichkeit unmögliches Bild), mit ihm, wie er
    tatsächlich war.

3
    »Bist du ihm begegnet?« fragte sie ihn, als sie am Tische bei der Lampe saßen. »Siehst du, das ist deine Strafe
    dafür, daß du zu spät gekommen bist.«
    »Ja, aber wie ist das nur zugegangen? Er sollte ja doch in der Sitzung sein?«
    »Er ist auch dagewesen, kam aber früher zurück und fuhr dann wieder fort, ich weiß nicht wohin. Aber über diese
    Begegnung wollen wir uns weiter nicht aufregen; sprich nicht mehr davon! Wo bist du inzwischen gewesen? Immer mit
    dem Prinzen zusammen?«
    Sie kannte alle Einzelheiten seines Lebens. Er wollte ihr schon sagen, daß er die ganze Nacht nicht geschlafen
    habe und dann vom Schlafe übermannt worden sei; aber als er in ihr erregtes, glückliches Gesicht blickte, schämte
    er sich zu sagen, daß er die Zeit verschlafen habe. Er sagte lieber, er habe ausfahren müssen, um von der Abreise
    des Prinzen Meldung abzustatten.
    »Aber jetzt ist das zu Ende? Er ist abgereist?«
    »Ja, Gott sei Dank, es ist zu Ende. Du glaubst gar nicht, wie widerwärtig mir die Sache gewesen ist.«
    »Aber warum denn? Das ist doch das Leben, das ihr jungen Männer immer führt«, erwiderte sie, griff, die Brauen
    zusammenziehend, nach einer Häkelarbeit, die auf dem Tische lag, und schickte sich an, ohne Wronski anzusehen, den
    Häkelhaken aus ihr herauszuziehen.
    »Ich habe dieses Leben schon längst aufgegeben«, versetzte er, erstaunt über die Veränderung ihres
    Gesichtsausdrucks und bemüht, die Bedeutung dieser Veränderung zu erkennen. »Und ich muß bekennen«, fuhr er fort
    und lächelte dabei, so daß seine lückenlosen, weißen Zähne sichtbar wurden, »ich habe diese Woche über, während ich
    dieses Leben mit ansah, mich wie in einem Spiegel betrachtet, und es war mir recht unerfreulich.«
    Sie hielt die Häkelarbeit in den Händen, häkelte aber nicht daran, sondern sah ihn mit einem sonderbaren,
    funkelnden, unfreundlichen Blicke an.
    »Heute morgen hat mich Lisa besucht – die Damen scheuen sich noch nicht, mit mir zu verkehren, trotz der Gräfin
    Lydia Iwanowna«, schaltete sie ein – »und mir von eurer athenischen Soiree erzählt. Wie ekelhaft!«
    »Ich wollte nur sagen, daß ...«
    Sie unterbrach ihn.
    »War das jene Französin Therese, mit der du früher bekannt warst?«
    »Ich wollte sagen ...«
    »Wie abscheulich seid ihr Männer doch! Könnt ihr denn nicht begreifen, daß eine Frau so etwas nicht vergessen
    kann?« sagte sie; sie wurde dabei immer heftiger und verriet ihm dadurch die Ursache ihrer Gereiztheit. »Besonders
    eine Frau, die nicht wissen kann, wie du fern von ihr lebst. Was weiß ich denn von deinem Leben? Was habe ich denn
    davon gewußt? Nur was du mir sagst. Und woher soll ich wissen, ob du mir die Wahrheit sagst?«
    »Anna, du kränkst mich. Glaubst du mir denn nicht? Habe ich dir nicht gesagt, daß in meinem Kopfe kein Gedanke
    ist, den ich dir nicht mitteilen würde?«
    »Ja, ja«, antwortete sie, sichtlich bemüht, ihre eifersüchtigen Regungen

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