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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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auf dem Gebiete
    der russischen Unerschrockenheit gegeben hatte.

2
    Nach Hause zurückgekehrt, fand Wronski ein paar Zeilen von Anna vor. Sie schrieb: »Ich bin krank und
    unglücklich. Ich kann nicht ausfahren; aber ich kann es nicht länger ertragen, Sie nicht zu sehen. Kommen Sie heute
    abend! Um sieben Uhr fährt Alexei Alexandrowitsch in die Sitzung und bleibt dort bis zehn.« Er überlegte einen
    Augenblick, wie seltsam es doch sei, daß sie ihn so ohne weiteres zu sich rufe, trotz der von ihrem Manne
    gestellten Forderung, ihn nicht zu empfangen; aber dann entschied er sich dafür, hinzufahren.
    Wronski war in diesem Winter zum Obersten befördert worden, war damit aus dem Regiment ausgeschieden und wohnte
    nun allein für sich. Nachdem er gefrühstückt hatte, legte er sich sofort auf das Sofa, und nach fünf Minuten
    erfüllten sein Gehirn in wirrem Durcheinander Erinnerungen an die widerwärtigen Szenen, die er in den letzten Tagen
    mit angesehen hatte; dabei verknüpfte sich der Gedanke an Anna wunderlich mit dem an einen Bauer, der bei der
    Bärenjagd als Aufstörer des Tieres aus seinem Winterlager eine wichtige Rolle gespielt hatte; darüber schlief
    Wronski ein. Er erwachte erst am Abend im Dunkeln, vor Furcht zitternd, und zündete hastig eine Kerze an. ›Was ist
    los? Was war das? Was habe ich nur Furchtbares geträumt? Ja, ja, das war's: der Bauer, der das Tier aufstörte, ich
    glaube, so ein kleiner, schmutziger Kerl mit zerzaustem Barte, tat in gebückter Haltung irgend etwas und fing auf
    einmal an, französisch zu sprechen, so ganz sonderbare Worte. Ja, weiter habe ich nichts geträumt‹, sagte er zu
    sich. ›Aber was war nur daran so Entsetzliches?‹ Er erinnerte sich noch einmal mit voller Deutlichkeit an den Bauer
    und jene unverständlichen französischen Worte, die der Bauer gesprochen hatte, und ein kalter Schauder lief ihm
    über den Rücken.
    ›Was für ein Unsinn!‹ dachte Wronski und blickte auf die Uhr.
    Es war schon halb neun. Er klingelte dem Diener, kleidete sich eilig an und trat vor die Haustür; den Traum
    hatte er bereits vollständig vergessen; es quälte ihn nur der Gedanke, daß er sich verspätet hatte. Als er bei
    Karenins vorfuhr, blickte er nach der Uhr und sah, daß es zehn Minuten vor neun war. Eine hohe, schmale Kutsche,
    mit zwei Grauschimmeln bespannt, stand in der Nähe der Haustür. Er erkannte den Wagen, in dem Anna zu fahren
    pflegte. ›Sie will zu mir fahren‹, dachte er, ›und das wäre auch das beste. Es ist mir unangenehm, dieses Haus zu
    betreten. Aber einerlei; verstecken kann ich mich jetzt nicht‹, sagte er zu sich, und in der schon von kleinauf ihm
    geläufigen Haltung eines Mannes, der keinen Anlaß hat, sich zu schämen, stieg er aus dem Schlitten und ging zur
    Haustür. In diesem Augenblicke öffnete sich die Haustür, und der Pförtner, der ein Tuch auf dem Arme hielt, rief
    den Wagen heran. Obgleich es nicht in Wronskis Art lag, nebensächliche Einzelheiten zu beachten, fiel ihm doch die
    erstaunte Miene auf, mit der der Pförtner ihn ansah. Gerade in der Tür prallte Wronski beinahe mit Alexei
    Alexandrowitsch zusammen. Die Gasflamme beleuchtete aus nächster Nähe das blutleere, abgemagerte Gesicht unter dem
    schwarzen Hute und die weiße Krawatte, die aus dem Biberkragen des Überziehers hervorschimmerte. Karenins starre,
    trübe Augen hefteten sich auf Wronskis Gesicht. Dieser verbeugte sich; Alexei Alexandrowitsch hob, unter leeren
    Kaubewegungen des Mundes, die Hand zum Hute und ging vorüber. Wronski sah, wie er, ohne sich umzuschauen, sich in
    den Wagen setzte, Tuch und Opernglas durch das Fenster in Empfang nahm und davonfuhr. Wronski ging in das Vorzimmer
    hinein. Seine Brauen waren finster zusammengezogen, und seine Augen funkelten in ingrimmigem, stolzem Glanze.
    ›Eine heillose Lage!‹ dachte er. ›Wenn er kämpfen, seine Ehre verteidigen wollte, dann könnte ich handeln und
    meinen Gefühlen freien Lauf lassen; aber diese Schwächlichkeit oder Gemeinheit ... Er drängt mich in die Lage eines
    Betrügers, was ich doch nie habe sein wollen und nicht sein will.‹
    Seit seiner Unterredung mit Anna im Wredeschen Parke hatten sich Wronskis Anschauungen geändert. Unwillkürlich
    sich der Schwäche Annas anbequemend, die sich ihm ganz hingab, nur von ihm eine Entscheidung ihres Schicksals
    erwartete und sich im voraus in alles fügte, hatte er längst aufgehört zu denken, daß dieses Verhältnis jemals in
    der Weise ein Ende

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