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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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Vorgesetzten, er sei im Umgange ein wahrer Bär, und den Gerüchten zufolge gehörte er einer Richtung an, die
    der völlig entgegengesetzt war, die der frühere Vorgesetzte und bisher Stepan Arkadjewitsch selbst angehört hatten.
    Gestern hatte sich Stepan Arkadjewitsch ihm dienstlich in Uniform vorgestellt, und der neue Vorgesetzte war sehr
    liebenswürdig gewesen und hatte sich mit ihm wie mit einem guten Bekannten unterhalten; daher hielt es Stepan
    Arkadjewitsch für seine Pflicht, ihm nun einen Besuch im Oberrock zu machen. Der Gedanke, daß der neue Vorgesetzte
    ihn vielleicht unfreundlich empfangen werde, war der zweite unangenehme Umstand. Aber Stepan Arkadjewitsch hatte
    das unwillkürliche Gefühl, das werde sich alles schon ganz vortrefflich »einrenken«. ›Wir sind ja alle Menschen und
    sind allzumal Sünder; wozu soll man sich da übereinander ärgern und sich miteinander zanken?‹ dachte er, als er in
    das Hotel hineinging.
    »Guten Tag, Wasili«, sagte er, als er, mit schief aufgesetztem Hute den Seitengang entlanggehend, einen ihm
    bekannten Kellner traf. »Du hast dir ja einen Backenbart stehenlassen. Herr Ljewin wohnt in Nummer sieben, nicht
    wahr? Bitte, führe mich hin! Und dann erkundige dich, ob Graf Anitschkin (das war der neue Vorgesetzte) Besuch
    annimmt.«
    »Zu Befehl!« antwortete Wasili lächelnd. »Sie haben uns lange nicht die Ehre gegeben.«
    »Ich war gestern hier; aber ich bin durch das andere Tor gekommen. Das ist Nummer sieben?«
    Ljewin stand mit einem Bauern aus Twer mitten im Zimmer und maß mit einer Elle ein frisch abgezogenes Bärenfell
    aus, als Stepan Arkadjewitsch eintrat.
    »Ah, habt ihr den geschossen?« rief Stepan Arkadjewitsch. »Ein prächtiges Stück! Wohl eine Bärin? Guten Tag,
    Archip!«
    Er drückte dem Bauern die Hand und setzte sich, ohne Überzieher und Hut abzulegen, auf einen Stuhl.
    »Aber so lege doch ab und bleib ein Weilchen hier!« sagte Ljewin, indem er ihm den Hut vom Kopfe nahm.
    »Nein, ich habe keine Zeit; ich bin nur auf eine Sekunde hergekommen«, antwortete Stepan Arkadjewitsch. Er
    schlug den Überzieher nur auseinander; nachher aber zog er ihn doch aus, blieb eine ganze Stunde da und unterhielt
    sich mit Ljewin über die Jagd und über seine eigenen geheimsten Herzensangelegenheiten. »Nun sage doch mal, was
    hast du denn im Auslande gemacht? Wo bist du eigentlich gewesen?« fragte er; der Bauer war inzwischen
    weggegangen.
    »Ich bin in Deutschland, in Preußen, in Frankreich und in England gewesen, aber nicht in den Hauptstädten,
    sondern in den Fabrikorten, und habe viel Neues gesehen. Ich freue mich, daß ich dagewesen bin.«
    »Ja, ich kenne deine Pläne über die Organisation der Arbeiter.«
    »Darum handelt es sich ganz und gar nicht; in Rußland kann es keine Arbeiterfrage geben. In Rußland dreht sich
    die Frage nur um das Verhältnis der arbeitenden Bevölkerung zum Grund und Boden. Diese Frage besteht ja auch dort;
    aber dort handelt es sich um eine Besserung verdorbener Verhältnisse; bei uns hingegen ...«
    Stepan Arkadjewitsch hörte ihm aufmerksam zu.
    »Ja, ja«, sagte er. »Sehr möglich, daß du recht hast. Aber ich freue mich, daß du so munter und
    unternehmungslustig bist: du fährst auf die Bärenjagd und arbeitest und bist mit Leib und Seele bei dem, was du
    vorhast. Und da hat mir der junge Schtscherbazki gesagt (der hat dich ja getroffen), du wärest in gedrückter
    Stimmung und redetest immer nur vom Tode ...«
    »Nun ja, ich denke auch fortwährend an den Tod«, versetzte Ljewin. »Es ist wahr, daß uns der Tod nahe ist und
    daß das ganze Treiben hier Torheit ist. Ich muß dir aufrichtig sagen: ich lege ja auf meine Pläne und auf meine
    Arbeit einen hohen Wert; aber wenn man's ernsthaft überlegt, so ist doch diese unsere ganze Menschenwelt nur so
    eine Art Schimmelüberzug, der sich auf einem kleinwinzigen Planeten gebildet hat. Und da bilden wir uns ein, es
    könne bei uns etwas Großes geben, große Pläne, große Taten! All das sind nur Sandkörnchen.«
    »Brüderchen, diese Erkenntnis ist so alt wie die Welt.«
    »Gewiß; aber weißt du, wenn man das so recht klar erfaßt hat, so erscheint einem auf einmal alles so klein und
    nichtig. Wenn man einsieht, daß man bald sterben muß und nichts von einem übrigbleibt, dann kommt einem alles so
    klein und nichtig vor! Ich halte ja meine Pläne für etwas sehr Wichtiges; aber es stellt sich dann doch heraus, daß
    sie, selbst wenn ich sie durchführen könnte,

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