Anna Karenina
Alexandrowna und lächelte gezwungen.
»Es ist mir dies um so erwünschter«, versetzte er, »da ich Sie um Entschuldigung bitten und mich sogleich
empfehlen wollte. Ich muß morgen abreisen.«
Darja Alexandrowna war von Annas Unschuld fest überzeugt und fühlte, wie sie blaß wurde und ihr die Lippen
zitterten vor Zorn über diesen kalten, gefühllosen Menschen, der sich mit solcher Ruhe daranmachte, ihre
unglückliche Freundin zugrunde zu richten.
»Alexei Alexandrowitsch«, sagte sie und blickte ihm mit der Entschlossenheit der Verzweiflung in die Augen, »ich
habe Sie gestern nach Anna gefragt, und Sie haben mir nicht geantwortet. Wie geht es ihr?«
»Ich glaube, sie ist gesund, Darja Alexandrowna«, antwortete Alexei Alexandrowitsch, ohne sie anzusehen.
»Alexei Alexandrowitsch, verzeihen Sie mir, ich habe ja eigentlich kein Recht ... aber ich liebe und achte Anna
wie eine Schwester; ich bitte, ich flehe Sie an, sagen Sie mir, was ist zwischen Ihnen beiden vorgefallen? Was
werfen Sie ihr vor?«
Alexei Alexandrowitsch runzelte die Stirn, schloß die Augen fast ganz und ließ den Kopf hängen.
»Ich setze voraus, daß Ihr Gatte Ihnen die Gründe mitgeteilt hat, die es mir notwendig erscheinen lassen, mein
bisheriges Verhältnis zu Anna Arkadjewna zu ändern«, antwortete er, ohne ihr in die Augen zu sehen; unzufrieden
blickte er sich nach dem jungen Schtscherbazki um, der durch das Zimmer ging.
»Ich glaube es nicht, ich glaube es nicht, ich kann es nicht glauben!« versetzte Dolly und preßte mit einer
energischen Gebärde ihre knochigen Hände vor ihrer Brust zusammen. Sie stand rasch auf und legte ihre Hand auf
Alexei Alexandrowitschs Arm: »Wir werden hier gestört; bitte, kommen Sie dorthin.«
Dollys Aufregung machte Alexei Alexandrowitsch nachgiebig. Er stand auf und folgte ihr gehorsam in das
Unterrichtszimmer der Kinder. Sie nahmen an einem Tische Platz, dessen Wachstuchüberzug vielfach von Federmessern
zerschnitten war.
»Ich glaube es nicht, ich glaube es nicht!« sagte Dolly noch einmal und gab sich Mühe, seinen Blick, der den
ihrigen vermied, zu fangen.
»Den vorliegenden Tatsachen kann man nicht umhin Glauben zu schenken«, versetzte er und legte dabei einen
besonderen Nachdruck auf das Wort »Tatsachen«.
»Aber was hat sie denn getan?« fragte Darja Alexandrowna. »Was ist es denn eigentlich, was sie getan hat?«
»Sie hat ihre Pflicht verletzt und ihren Mann betrogen. Das ist's, was sie getan hat«, antwortete er.
»Nein, nein, das ist nicht möglich! Nein, ich beschwöre Sie, Sie haben sich geirrt!« rief Dolly; sie griff sich
mit den Händen an die Schläfen und schloß die Augen.
Alexei Alexandrowitsch lächelte kalt, nur mit den Lippen, in der Absicht, ihr und sich selbst die Festigkeit
seiner Überzeugung zu zeigen; diese eifrige Verteidigung konnte ihn zwar nicht wankend machen, hatte aber die
Wirkung, seine Wunde wieder aufzureißen. Er erwiderte mit größerer Lebhaftigkeit:
»Ein Irrtum ist wohl so gut wie ausgeschlossen, wenn die Frau selbst dem Manne die betreffende Mitteilung macht,
ihm mitteilt, daß acht Jahre gemeinsamen Lebens und das Kind, daß das alles ein Irrtum war und daß sie noch einmal
ganz von vorn zu leben anfangen will«, sagte er zornig, indem er hörbar den Atem durch die Nase einzog und
ausstieß.
»Anna und die Sünde – das kann ich nicht vereinigen, das kann ich nicht glauben.«
»Darja Alexandrowna!« begann er; er blickte ihr jetzt gerade in das herzensgute, aufgeregte Gesicht und fühlte,
daß seine Zunge sich unwillkürlich freier bewegte. »Ich würde viel darum geben, wenn noch ein Zweifel möglich wäre.
Damals, als ich noch zweifelte, war mir schwer ums Herz, aber doch immerhin leichter als jetzt. Damals, als ich
noch zweifelte, war doch noch nicht alle Hoffnung geschwunden; aber jetzt ist keine Hoffnung mehr, und doch zweifle
ich an allem. Ich zweifle derart an allem, daß ich meinen Sohn hasse und zuweilen nicht glaube, daß er mein Sohn
ist. Ich bin sehr unglücklich.«
Er hätte das nicht zu sagen brauchen. Darja Alexandrowna hatte das erkannt, sobald er ihr ins Gesicht geblickt
hatte; Mitleid mit ihm ergriff sie, und der Glaube an die Schuldlosigkeit ihrer Freundin geriet in ihrem Herzen ins
Wanken.
»Ach, das ist furchtbar, furchtbar! Aber ist es denn wirklich wahr, daß Sie sich zur Scheidung entschlossen
haben?«
»Ich habe mich zu dieser äußersten Maßregel entschlossen. Es blieb mir nichts
Weitere Kostenlose Bücher