Anna Karenina
Mädchen tun, das keine Familie hat?« wandte Stepan Arkadjewitsch ein und dachte dabei an
Fräulein Tschibisowa, die er die ganze Zeit über im Sinne gehabt hatte, wo er mit Peszow übereingestimmt und ihm
seinen Beifall bekundet hatte.
»Wenn man sich aber den Lebenslauf dieses Mädchens etwas genauer ansieht, so wird man finden, daß dieses Mädchen
sich von ihrer eigenen Familie oder von der Familie ihrer Schwester losgesagt hat, wo sie eine für ein weibliches
Wesen passende Stellung hätte einnehmen können«, mischte sich unerwarteterweise Darja Alexandrowna in gereiztem
Tone in das Gespräch; sie mochte wohl erraten haben, welches Mädchen Stepan Arkadjewitsch im Sinne hatte.
»Aber wir treten für den Grundsatz ein, für den Grundgedanken!« erwiderte Peszow mit seiner volltönenden
Baßstimme. »Die Frau will das Recht haben, selbständig und gebildet zu sein. Das Gefühl, dies nicht erreichen zu
können, beengt sie und drückt sie nieder.«
»Und ich fühle mich dadurch beengt und niedergedrückt, daß man mich im Findelhause nicht als Amme annehmen
will«, sagte der alte Fürst wieder zum größten Vergnügen Turowzüns, der vor Lachen den Spargel mit dem dicken Ende
in die Sauce fallen ließ.
Fußnoten
1 (frz.) sprechen wir das Wort aus.
11
Alle hatten sich an diesem allgemeinen Gespräche beteiligt außer Kitty und Ljewin. Zu Anfang, als von der
Einwirkung gesprochen wurde, die ein Volk auf das andere ausüben könne, fiel Ljewin unwillkürlich manches ein, was
er selbst über diesen Gegenstand sagen konnte; aber diese Gedanken, die früher für ihn eine so große Wichtigkeit
gehabt hatten, huschten ihm jetzt nur ganz flüchtig wie im Traume durch den Kopf und interessierten ihn nicht im
geringsten mehr. Es kam ihm sogar sonderbar vor, weshalb doch diese Menschen mit solchem Eifer über Dinge redeten,
die keinen von ihnen persönlich angingen. Ganz ebenso hätte wohl Kitty sich für das interessieren sollen, was da
über Frauenrechte und Frauenbildung gesprochen wurde. Wie oft hatte sie über diesen Gegenstand nachgedacht, wenn
sie sich an Warjenka, ihre Freundin von dem deutschen Badeorte her, und an deren schwere, abhängige Lebensstellung
erinnerte; wie oft hatte sie auch an sich selbst gedacht, was aus ihr werden würde, wenn sie sich nicht
verheiratete; und wie oft hatte sie mit ihrer Schwester hierüber gestritten! Aber jetzt interessierte sie das gar
nicht. Zwischen ihr und Ljewin war ein besonderes Gespräch im Gange oder eigentlich nicht ein Gespräch, sondern
eine Art von geheimnisvoller seelischer Verbindung, die sie von Minute zu Minute immer enger miteinander verknüpfte
und in beiden ein Gefühl froher Bangigkeit vor jenem unbekannten Gebiete erweckte, in das sie sich jetzt
anschickten einzutreten.
Zuerst hatte Ljewin auf Kittys Frage, wie es denn zugegangen sei, daß er sie im vorigen Jahre im Wagen gesehen
habe, ihr erzählt, wie er nach der Heuernte auf der Landstraße gewandert sei und sie dabei getroffen habe.
»Es war ganz früh am Morgen. Sie waren wahrscheinlich eben erst aufgewacht. Ihre maman schlief in ihrem Eckchen.
Es war ein wunderschöner Morgen. Ich wanderte so dahin und dachte: ›Wer kommt denn da mit einem Viergespann
angefahren?‹ Es war ein vorzügliches Viergespann mit Schellen; und in einem Augenblick rollten Sie an mir vorbei,
und ich warf einen Blick ins Fenster, da saßen Sie so da – sehen Sie, so: Sie hielten mit beiden Händen die Bänder
Ihres Häubchens fest und waren ganz tief in Gedanken versunken«, erzählte er lächelnd. »Ich hätte gar zu gern
gewußt, woran Sie damals dachten. Wohl an etwas sehr Wichtiges?«
›Ob wohl auch mein Haar nicht unordentlich ausgesehen hat?‹ dachte sie; aber als sie das entzückte Lächeln sah,
das durch die Erinnerung an diese Einzelheiten auf seinem Gesichte hervorgerufen wurde, da sagte sie sich, daß im
Gegenteil der Eindruck, den sie gemacht habe, gut gewesen sein müsse. Sie errötete und lachte fröhlich.
»Ich erinnere mich wirklich nicht mehr.«
»Wie herzlich dieser Turowzün lacht!« bemerkte Ljewin und betrachtete mit Vergnügen dessen feuchtschimmernde
Augen und schütternden Körper.
»Kennen Sie ihn schon lange?« fragte Kitty.
»Wer sollte den nicht kennen!«
»Ich merke, daß Sie ihn für einen schlechten Menschen halten?«
»Nicht für schlecht, aber für unbedeutend.«
»Da beurteilen Sie ihn falsch. Lassen Sie nur diese Ansicht recht schnell fallen!«
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