Anna Karenina
Alexandrowna geäußerten Meinung an, daß ein Mädchen, das sich nicht verheiratet
habe, eine weibliche Beschäftigung für sich in einer Familie finden könne. Zur Bekräftigung führte er an, keine
Familie könne ohne eine Helferin auskommen, in jeder Familie, ob arm oder reich, gebe es Pflegerinnen für die
Kinder und müsse es solche geben, möchten dies nun für Lohn angenommene Personen sein oder Verwandte.
»Nein«, versetzte Kitty errötend; aber sie sah ihn nur um so fester mit ihren ehrlichen Augen an, »manches
Mädchen ist so gestellt, daß es nicht ohne Demütigung in eine andere Familie eintreten kann, und doch kann das
Mädchen selbst ...«
Er verstand aus dem bloßen Anfange des Satzes, was sie meinte.
»O ja«, rief er, »ja, ja, ja, Sie haben recht, Sie haben recht!«
Alles, was Peszow bei Tische für die Gleichberechtigung der Frauen vorgebracht hatte, verstand Ljewin jetzt auf
einmal, und zwar lediglich infolgedessen, weil er in Kittys Herzen die Furcht vor der Altjungfernschaft und einer
solchen Demütigung wahrnahm; und da er sie liebte, fühlte er diese Furcht und diese Demütigung mit und warf sofort
alle seine Beweisgründe über Bord.
Es trat ein Stillschweigen ein; sie zeichnete immer noch mit der Kreide auf dem Tische. Ihre Augen leuchteten in
stillem Glanze. Ihre Stimmung hatte sich ihm mitgeteilt, und er fühlte in seinem ganzen Wesen die sich immer mehr
steigernde Spannung der Glücksempfindung.
»Ach, ich habe den ganzen Tisch vollgemalt!« sagte sie, legte die Kreide hin und machte eine Bewegung, als ob
sie aufstehen wollte.
›Wie kann ich denn hier allein bleiben, ohne sie?‹ dachte er erschrocken und griff nach der Kreide. »Bitte,
bleiben Sie noch ein Augenblickchen!« sagte er, indem er sich an den Tisch setzte. »Ich wollte Sie schon lange
etwas fragen.«
Er blickte ihr gerade in die freundlichen, wiewohl erschrockenen Augen.
»Fragen Sie, bitte!«
»Bitte, sehen Sie her«, sagte er und schrieb folgende Anfangsbuchstaben hin: A, S, m, a: E, k, n, s, b, d, n, o,
n, d? Diese Buchstaben bedeuteten: »Als Sie mir antworteten: ›Es kann nicht sein‹, bedeutete das niemals oder nur damals? « Es war höchst unwahrscheinlich, daß sie diesen langen Satz sollte verstehen können; aber
er blickte sie mit so ängstlicher Spannung an, als hinge sein Leben davon ab, ob sie diese Worte verstehen werde
oder nicht.
Sie sah ihn ernst an; dann stützte sie die gerunzelte Stirn auf die Hand und begann zu lesen. Bisweilen schaute
sie ihn dabei an und fragte gleichsam mit dem Blicke: ›Bedeutet es das, was ich denke?‹
»Ich habe es verstanden«, sagte sie endlich errötend.
»Was ist das für ein Wort?« fragte er und zeigte auf das n, das »niemals« bedeutete.
»Dieses Wort heißt ›niemals‹«, antwortete sie. »Aber dieses Wort sagt nicht die Wahrheit.«
Er wischte das Geschriebene schnell weg, reichte ihr die Kreide hin und stand auf. Sie schrieb: D, k, i, n, a,
a.
Dolly fühlte sich über den Kummer, den ihr das Gespräch mit Alexei Alexandrowitsch bereitet hatte, völlig
hinweggetröstet, als sie diese beiden Gestalten nebeneinander sah: Kitty, die, die Kreide in der Hand, mit einem
schüchternen, glückseligen Lächeln zu Ljewin in die Höhe blickte, und seine hübsche Gestalt, die sich über den
Tisch beugte, mit den leuchtenden Augen, die sich bald auf den Tisch, bald auf sie richteten. Plötzlich strahlte er
über das ganze Gesicht: er hatte verstanden. Es bedeutete: »Damals konnte ich nicht anders antworten.«
Er blickte sie zaghaft fragend an.
»Nur damals?«
»Ja«, antwortete ihr Lächeln.
»Und jetzt ... und jetzt?« fragte er.
»Nun, dann sehen Sie, bitte, her und lesen Sie! Ich werde schreiben, was mein Wunsch ist, mein dringender
Wunsch!« Sie schrieb folgende Anfangsbuchstaben: D, S, v, u, v, k, w, g, i. Das bedeutete: »Daß Sie vergeben und
vergessen könnten, was geschehen ist.«
Er ergriff mit krampfhaft zitternden Fingern die Kreide und schrieb in solcher Erregung, daß er die Kreide dabei
zerbrach, die Anfangsbuchstaben folgender Sätze hin: »Ich habe nichts zu vergeben und zu vergessen; ich liebe Sie
noch unverändert.«
Sie sah ihn mit einem regungslosen Lächeln an.
»Ich habe verstanden«, flüsterte sie.
Er setzte sich hin und schrieb einen langen Satz. Sie verstand alles, und ohne zu fragen, ob sie auch alles
richtig aufgefaßt habe, nahm sie die Kreide und antwortete sofort.
Er konnte das, was sie
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