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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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zugebracht, und doch fühlte
    er sich nicht nur so frisch und gesund wie nur je zuvor, sondern auch geradezu unabhängig von seinem Körper: er
    bewegte sich, ohne die Muskeln anzustrengen, und hatte die Empfindung, daß er schlechthin alles könne. Er war
    überzeugt, daß er in die Höhe fliegen oder die Ecke eines Hauses fortschieben könne, wenn das erforderlich sein
    sollte. Während der noch übrigen Zeit wanderte er auf der Straße umher, wobei er unaufhörlich nach der Uhr sah und
    sich nach allen Seiten umblickte.
    Und so interessante Dinge wie damals bekam er in seinem ganzen späteren Leben nicht wieder auf der Straße zu
    sehen. Besonderen Eindruck machten ihm die Kinder, die zur Schule gingen, die blaugrauen Tauben, die von einem
    Dache auf den Fußsteig heruntergeflogen kamen, und die mit Mehl überstäubten Semmeln, die eine unsichtbare Hand in
    einem Schaufenster auslegte. Diese Semmeln, diese Tauben sowie zwei kleine Knaben erschienen ihm wie Dinge, die
    nicht von dieser Welt waren. Folgendes begab sich alles in ein und demselben Augenblick: einer der beiden Knaben
    lief auf eine Taube zu und blickte lächelnd nach Ljewin hin; die Taube schlug klatschend mit den Flügeln und flog
    davon, wobei ihr Gefieder im Sonnenlichte zwischen den in der Luft zitternden Schneestäubchen hell leuchtete; und
    aus einem Fenster duftete es nach frisch gebackenem Brote, und es wurden dort die Semmeln ausgelegt. Alles dies
    zusammen war so außerordentlich hübsch, daß Ljewin vor Freude zugleich lachte und weinte. Nachdem er einen großen
    Rundgang durch die Gasetnü-Gasse und die Kislowka gemacht hatte, kehrte er in sein Hotel zurück, legte die Uhr vor
    sich auf den Tisch, setzte sich hin und wartete, bis es zwölf sein würde. Im Nachbarzimmer wurde von Maschinen und
    von einer Betrügerei gesprochen, und es war ein energisches Husten zu hören, wie es sich morgens nach dem Aufwachen
    einzustellen pflegt. Die Leute dort hatten offenbar gar kein Verständnis dafür, daß der Uhrzeiger sich schon der
    Zwölf näherte. Endlich hatte der Zeiger die Zwölf erreicht, und Ljewin trat vor das Tor. Die Droschkenkutscher
    wußten augenscheinlich alles. Sie umringten Ljewin mit glückseligen Gesichtern und boten, sich untereinander
    streitend, ihre Dienste an. Ljewin wählte sich einen Kutscher aus, versprach den übrigen, damit sie sich nicht
    gekränkt fühlen möchten, bei späteren Gelegenheiten auch mit ihnen zu fahren, und gab dem seinigen als Ziel das
    Schtscherbazkische Haus an. Der Kutscher sah allerliebst aus mit seinem weißen Hemdkragen, der aus dem Rocke
    hervorschaute und den vollen, roten, kräftigen Hals straff umschloß. Und was den Schlitten dieses Kutschers
    anlangte, so war er hoch und außerordentlich bequem, ein Schlitten, wie er Ljewin in späteren Zeiten nie wieder
    vorkam; und auch das Pferd war gut und gab sich alle Mühe, schnell zu laufen, kam aber allerdings nicht vom Fleck.
    Der Kutscher kannte das Schtscherbazkische Haus, hob am Ziele, zum Zeichen besonderer Ehrerbietung gegen seinen
    Fahrgast, die Arme in einer schönen runden Geste, sagte: »Brr!« und hielt am Eingang. Der Schtscherbazkische
    Pförtner wußte bestimmt alles. Das konnte man aus seinem Lächeln abnehmen und aus der Art, wie er sagte:
    »Ah, Sie sind ja lange nicht hier gewesen, Konstantin Dmitrijewitsch!«
    Er wußte nicht nur alles, sondern war auch offenbar entzückt darüber und machte die größten Anstrengungen, um
    seine Freude zu verbergen. Ljewin blickte dem alten Manne in die guten, freundlichen Augen und fand dabei noch
    wieder einen neuen Anlaß, sich glücklich zu fühlen.
    »Sind die Herrschaften schon aufgestanden?«
    »Bitte, näher zu treten! Oh, lassen Sie sie nur hier!« sagte er lächelnd, als Ljewin umkehren und seine Mütze
    mit hereinnehmen wollte. Das hatte sicherlich etwas zu bedeuten.
    »Wem darf ich Sie melden?« fragte der Diener.
    »Der Fürstin ... dem Fürsten ... der Prinzessin ...«, antwortete Ljewin.
    Die erste Person, die er traf, war Mademoiselle Linon. Sie ging durch den Saal, und ihre Löckchen und ihr
    Gesicht strahlten nur so. Kaum hatte er mit ihr ein paar Worte gewechselt, als sich im Nebenzimmer hinter der Tür
    das Rascheln eines Kleides vernehmen ließ und Mademoiselle Linon ihm auf einmal aus den Augen verschwunden war. Ein
    freudiger Schreck über die Nähe seines Glückes überkam ihn. Mademoiselle Linon hatte es jetzt sehr eilig, ihn zu
    verlassen, und ging nach einer andern Tür

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