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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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heiraten werde.
    Ljewin setzte bei diesem Anlasse dem Kellner Jegor seine Ansicht auseinander, daß in der Ehe die Hauptsache die
    Liebe sei und daß man, wenn nur diese nicht fehle, immer glücklich sein müsse, weil die Quelle des Glückes nur im
    eigenen Herzen sei.
    Jegor hörte aufmerksam zu und verstand offenbar Ljewins Meinung vollkommen; aber um diese noch seinerseits zu
    bekräftigen, brachte er die für Ljewin unerwartete Bemerkung vor, er sei, wenn er bei guten Herrschaften gedient
    habe, mit seinen Herrschaften immer zufrieden gewesen und sei auch jetzt mit seinem Brotherrn vollkommen zufrieden,
    obgleich dieser ein Franzose sei.
    ›Ein außerordentlich guter Mensch!‹ dachte Ljewin.
    »Nun, und als du dich verheiratetest, Jegor, hast du da deine Frau geliebt?«
    »Aber natürlich!« antwortete Jegor.
    Und Ljewin sah, daß sich Jegor gleichfalls in einem Zustande des Entzückens befand und vorhatte, ihm alle seine
    seelischen Empfindungen zu schildern.
    »Mein Lebenslauf ist auch ein ganz wunderbarer. Von meiner Kindheit an ...«, begann er mit leuchtenden Augen;
    offenbar hatte ihn Ljewins Entzücken angesteckt, geradeso wie Gähnen ansteckend wirkt.
    Aber in diesem Augenblicke ertönte eine Klingel; Jegor ging hinaus, und Ljewin blieb allein im Zimmer. Er hatte
    bei dem Mahle so gut wie nichts gegessen, bei Swijaschskis den angebotenen Tee und das Abendbrot dankend abgelehnt;
    aber trotzdem war ihm der Gedanke, jetzt noch etwas zu essen, ganz unmöglich. Er hatte in der vorigen Nacht nicht
    geschlafen, mochte aber an Schlaf überhaupt nicht denken. Im Zimmer war es kühl; aber er glaubte vor Hitze
    ersticken zu müssen. Er öffnete die beiden Luftklappen des Doppelfensters und setzte sich ihnen gegenüber auf den
    Tisch. Über einem schneebedeckten Dache war ein mit Ketten musterartig verziertes Kreuz sichtbar, das auf einer
    Kirchenkuppel stand, und höher hinauf das aufsteigende Dreieck des Sternbildes des Fuhrmanns mit der gelblich
    leuchtenden Kapella. Er blickte bald nach dem Kreuze, bald nach dem Sterne hin, atmete die frische Winterluft ein,
    die gleichmäßig ins Zimmer strömte, und verfolgte wie im Traum die Bilder und Erinnerungen, die vor seinem
    geistigen Auge auftauchten. Etwa um halb vier Uhr hörte er Schritte auf dem Seitengang und blickte aus der Tür. Es
    war ein ihm bekannter Spieler Mjaskin, der aus dem Klub kam. Mit finsterem Gesichte und zusammengezogenen
    Augenbrauen ging er hüstelnd nach seinem Zimmer. ›Der Arme, der Unglückliche!‹ dachte Ljewin, und Tränen der Liebe
    und des Mitleides mit diesem Menschen traten ihm in die Augen. Er wollte ihn schon anreden und ihm Trost
    zusprechen; aber da ihm noch einfiel, daß er nur im Hemde war, so unterließ er es und setzte sich wieder an die
    Luftklappe, um sich in der kalten Luft zu baden und dieses wunderlich geformte, stumme, aber für ihn so
    bedeutungsvolle Kreuz und den immer höher steigenden gelblich leuchtenden Stern zu betrachten. Nach sechs Uhr
    begannen die Dielenbohner zu lärmen; auf irgendeiner Kirche wurde zur Frühmesse geläutet, und Ljewin spürte, daß er
    zu frieren anfing. Er schloß die Luftklappe, wusch sich, kleidete sich an und ging auf die Straße hinaus.

15
    Auf den Straßen war es noch sehr still und einsam. Ljewin ging zu dem Schtscherbazkischen Hause. Der Eingang für
    Herrschaften war noch geschlossen, und alles schlief. Er kehrte in sein Hotel zurück, ging wieder auf sein Zimmer
    und bestellte sich Kaffee. Ein Kellner, aber nun ein anderer als Jegor, brachte ihn ihm. Ljewin wollte ein Gespräch
    mit ihm anknüpfen; aber es wurde nach dem Kellner geklingelt, und dieser ging hinaus. Ljewin versuchte Kaffee zu
    trinken und steckte ein Stück Semmel in den Mund; aber sein Mund wußte schlechterdings nicht, was er mit der Semmel
    anfangen sollte. Ljewin spie sie wieder aus, zog seinen Überzieher wieder an und ging nochmals auf die Straße. Es
    war zwischen neun und zehn Uhr, als er zum zweiten Male an das Tor des Schtscherbazkischen Hauses kam. Im Hause war
    man eben erst aufgestanden, und der Koch ging aus, um einzukaufen. Er mußte sich noch mindestens zwei Stunden
    gedulden.
    Diese ganze Nacht und den Morgen hatte Ljewin verlebt, ohne überhaupt an sein eigenes Dasein zu denken, und er
    fühlte sich von allen äußeren Erfordernissen des Lebens völlig losgelöst. Er hatte den ganzen Tag fast nichts
    gegessen, zwei Nächte nicht geschlafen, hatte mehrere Stunden entkleidet in der Kälte

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