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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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geschrieben hatte, trotz längerer Bemühung nicht verstehen und blickte ihr oft in die
    Augen. Er war von seinem Glücke ganz benommen und schlechterdings nicht imstande, für die Anfangsbuchstaben die
    Worte einzusetzen, die sie gemeint hatte; aber in ihren reizenden, glückstrahlenden Augen las er alles, was er zu
    wissen brauchte. Und nun schrieb er drei Buchstaben. Aber er hatte noch nicht zu Ende geschrieben, als sie schon
    das Geschriebene hinter seiner Hand las, es selbst zu Ende brachte und auch gleich die Antwort dazuschrieb:
    »Ja.«
    »Ihr spielt wohl secrétaire 1 ?« fragte der alte
    Fürst, der zu ihnen herantrat. »Aber nun müssen wir fahren, wenn du noch zur rechten Zeit ins Theater kommen
    willst.«
    Ljewin stand auf und begleitete Kitty bis zur Tür.
    In ihrem Gespräche war alles Erforderliche gesagt worden; es war gesagt worden, daß sie ihn liebe und ihrem
    Vater und ihrer Mutter sagen wolle, daß er morgen vormittag hinkommen werde.
Fußnoten
    1 (frz.) Geheimschreiber.

14
    Als Kitty weggefahren und Ljewin allein geblieben war, empfand er fern von ihr eine solche Unruhe und wünschte
    mit einer solchen Ungeduld die Zeit vorüber bis zum nächsten Vormittag, wo er sie wiedersehen und sich für immer
    mit ihr verbinden sollte, daß er diese vierzehn Stunden, die er ohne Kitty würde zubringen müssen, wie den Tod
    fürchtete. Er mußte unbedingt mit jemand zusammen sein und reden, um nur nicht ganz allein zu sein und um sich über
    die Zeit hinwegzutäuschen. Stepan Arkadjewitsch wäre für ihn der angenehmste Gesellschafter gewesen; aber der fuhr
    weg, wie er sagte, zu einer Abendgesellschaft, in Wirklichkeit jedoch zum Ballett. Ljewin fand nur gerade noch
    Zeit, ihm zu sagen, daß er glücklich sei und ihn sehr gern habe und nie vergessen werde, was er für ihn getan habe.
    Aus Stepan Arkadjewitschs Blick und Lächeln konnte Ljewin abnehmen, daß jener dieses Gefühl gebührendermaßen zu
    würdigen wußte.
    »Nun also, es ist doch wohl noch nicht Zeit zum Sterben?« fragte Stepan Arkadjewitsch und drückte ihm gerührt
    die Hand.
    »Nein, nein«, erwiderte Ljewin.
    Darja Alexandrowna wünschte ihm, als er sich ihr empfahl, gleichfalls gewissermaßen Glück, indem sie sagte: »Ich
    freue mich sehr, daß Sie Kitty wiedergetroffen haben; alte Freundschaften muß man in Ehren halten.« Alle diese
    Worte Darja Alexandrownas erregten bei Ljewin eine unangenehme Empfindung. Diese Frau hatte gar kein Verständnis
    dafür, wie unerreichbar hoch das alles über ihr stand, und hätte nicht wagen sollen, davon zu reden. Ljewin
    verabschiedete sich von den Wirten und Gästen; aber um nicht allein zu bleiben, hängte er sich an seinen
    Bruder.
    »Wohin fährst du?«
    »Ich fahre zu einer Stadtverordnetensitzung.«
    »Na, dann komme ich mit. Darf ich?«
    »Warum denn nicht? Komm nur!« versetzte Sergei Iwanowitsch lächelnd. »Was hast du nur heute?«
    »Ich? Ich bin glücklich!« antwortete Ljewin und ließ das Fenster des Wagens, in dem sie fuhren, herunter. »Es
    ist dir doch nicht unangenehm? Es ist hier so stickig. Ich bin glücklich. Warum hast du eigentlich nie
    geheiratet?«
    Sergei Iwanowitsch lächelte.
    »Ich freue mich sehr; sie scheint mir ein reizendes Mäd ...« fing er an.
    »Rede nicht, rede nicht, rede nicht!« rief Ljewin, faßte mit beiden Händen den Kragen von Sergei Iwanowitschs
    Pelz und schlug die beiden Teile übereinander. »Sie ist ein reizendes Mädchen«, das waren gar zu gewöhnliche,
    niedrige Ausdrücke, die so gar nicht seinem Gefühle entsprachen.
    Sergei Iwanowitsch stimmte ein lustiges Lachen an, was bei ihm nur selten vorkam.
    »Na, aber das darf ich doch wenigstens sagen, daß ich mich sehr darüber freue.«
    »Das darfst du morgen sagen, morgen, aber jetzt nichts weiter! Nichts, nichts, ganz still sein!« meinte Ljewin,
    schlug ihm noch einmal den Pelz vor dem Munde zusammen und fügte hinzu: »Ich habe dich sehr gern! Wie ist's? Darf
    ich mit in die Sitzung?«
    »Gewiß, selbstverständlich.«
    »Was liegt denn bei euch heute vor?« fragte Ljewin, der immer weiter lächelte.
    Sie kamen in die Sitzung. Ljewin hörte zu, wie der Sekretär, häufig anstoßend, ein Protokoll vorlas, das er
    offenbar selbst nicht verstand; aber Ljewin sah es diesem Sekretär am Gesicht an, was für ein lieber, guter,
    prächtiger Mensch er war. Das war daran zu sehen, wie verwirrt und verlegen er beim Vorlesen des Protokolls wurde.
    Dann begann die Verhandlung. Man stritt über die

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