Anna Karenina
meinte, daß es ohne diese materiellen Dinge schöner sein würde.
Er konnte ihr nicht recht nachfühlen, was sie bei dieser Veränderung ihrer Lebensstellung empfand: daß sie
früher zu Hause manchmal Appetit auf Kohl mit Kwaß oder auf Konfekt gehabt hatte und sich weder das eine noch das
andere hatte beschaffen können, jetzt aber in der Lage war, sich Konfekt haufenweise zu kaufen und Geld auszugeben,
soviel sie wollte, und sich Pasteten, und was sie sonst nur von Speisen wünschte, machen zu lassen.
Sie dachte jetzt mit lebhafter Freude an die bevor stehende Ankunft Dollys mit den Kindern, namentlich weil sie
jedem der Kinder seine Lieblingssorte Kuchen backen lassen wollte und weil sie hoffte, Dolly würde ihre ganze neue
Hauseinrichtung bewundern. Sie wußte selbst nicht, woher es kam und wozu es nötig war, aber die Hauswirtschaft
hatte für sie eine unwiderstehliche Anziehungskraft. Da sie instinktiv das Herannahen des Frühlings fühlte und
wußte, daß auch garstige Regentage nicht ausbleiben würden, so baute sie ihr Nest, so gut sie es verstand, und
hatte es eilig, gleichzeitig zu bauen und zu lernen, wie sie es machen müßte.
Kittys Geschäftigkeit um solche kleinlichen Dinge, die zu Ljewins idealer Vorstellung von dem überirdischen
Glück der ersten Ehezeit in so starkem Gegensatze stand, war eine der Enttäuschungen, die er erlebte; und zugleich
gewährte ihm diese allerliebste Geschäftigkeit, deren Sinn und Zweck er nicht begriff, die er aber nicht
umhinkonnte, mit herzlichem Vergnügen zu beobachten, eine neue entzückende Freude.
Eine andere Enttäuschung und Freude waren die Streitigkeiten. Ljewin hatte sich nie vorstellen können, daß
zwischen ihm und seiner Frau ein anderer Ton des Verkehrs als ein durchaus zärtlicher, achtungsvoller, liebevoller
möglich sei, und nun hatten sie sich gleich in den ersten Tagen so arg gezankt, daß sie ihm gesagt hatte, er liebe
sie nicht, er liebe nur sich allein, und unter verzweifeltem Händeringen in Tränen ausgebrochen war.
Dieser erste Streit war daher entstanden, daß Ljewin nach dem neuen Vorwerk geritten und eine halbe Stunde
länger vom Hause weggeblieben war; er hatte heimwärts einen näheren Weg reiten wollen und sich dabei verirrt. Auf
dem Heimwege dachte er nur an sie, an ihre Liebe, an sein Glück, und je näher er seinem Hause kam, um so heißer
wurde seine zärtliche Sehnsucht nach ihr. Er stürmte zu ihr ins Zimmer mit ebenso feuriger, ja mit noch feurigerer
Empfindung als damals, da er in das Schtscherbazkische Haus gekommen war, um ihr einen Antrag zu machen. Und ganz
unerwartet begegnete er einer finsteren Miene, wie er sie noch nie an ihr gesehen hatte. Er wollte sie küssen; aber
sie stieß ihn zurück.
»Was hast du?«
»Du bist ja sehr vergnügt ...«, begann sie, indem sie sich Mühe gab, in ruhigem, bitterem Tone zu sprechen.
Aber kaum hatte sie den Mund geöffnet, als auch die Worte wie ein gehemmter Strom hervorbrachen: Vorwürfe
sinnloser Eifersucht und all die törichten Gedanken, von denen sie diese halbe Stunde lang gepeinigt worden war,
während sie ohne sich zu rühren am Fenster gesessen hatte. Erst jetzt verstand er zum ersten Male klar, was er
damals noch nicht verstanden hatte, als er sie nach der Trauung aus der Kirche führte. Er verstand, daß sie ihm
nicht nur nahestand, sondern daß er jetzt nicht mehr wußte, wo sie aufhörte und er anfing. Er erkannte dies an dem
schmerzlichen Gefühl, das er in diesem Augenblick empfand, einem Gefühl, als ob er in zwei Teile geteilt würde. Im
ersten Augenblick fühlte er sich gekränkt; aber in der gleichen Sekunde fühlte er auch, daß sie ihn gar nicht
kränken könne, daß sie und er dieselbe Person seien. Er hatte im ersten Augenblick eine Empfindung, wie wenn jemand
plötzlich von hinten einen heftigen Stoß erhält, sich zornig und rachbegierig umdreht, um den Schuldigen zu
entdecken, und sich nun überzeugt, daß er sich selbst unversehens gestoßen hat, daß er auf niemand zornig zu sein
Anlaß hat und den Schmerz eben ertragen und nach Möglichkeit lindern muß.
In späteren Jahren empfand er all das nie wieder mit solcher Stärke; aber dieses erstemal war der Schmerz so
heftig, daß Ljewin lange Zeit seine Fassung nicht wiedergewinnen konnte. Ein natürliches Gefühl verlangte von ihm,
daß er sich rechtfertige und ihr ihr Unrecht nachweise; aber er sagte sich, wenn er das täte, so würde er sie
dadurch nur noch mehr
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