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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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sein. Jetzt dagegen war ihm diese Tätigkeit notwendig, damit sein Leben nicht allzu
    gleichmäßig hell und glanzvoll sei. Als er wieder zu seinen Papieren gegriffen und das Geschriebene noch einmal
    durchgelesen hatte, da hatte er zu seiner Freude gefunden, daß die Sache es wert sei, daß er sich weiter mit ihr
    beschäftige. Viele seiner früheren Ideen erschienen ihm als überflüssig und zu weitgehend; aber anderseits bemerkte
    er auch, während er die ganze Sache in seinem Gedächtnis wieder auffrischte, mancherlei Lücken und wurde sich
    darüber klar, wie diese auszufüllen seien. Er schrieb jetzt ein neues Kapitel: über die Ursachen der ungünstigen
    Lage der Landwirtschaft in Rußland. Er wies nach, daß die Armut in Rußland nicht nur von der ungerechten Verteilung
    des Grundbesitzes und dem falschen Verwaltungssystem herrühre, sondern daß dazu in letzter Zeit auch die dem Lande
    in naturwidriger Weise aufgepfropfte äußerliche Zivilisation beigetragen habe, namentlich die Verkehrswege, die
    Eisenbahnen, die eine Zentralisation in den Städten zur Folge hätten, das Steigen des Luxus und infolgedessen zum
    Schaden der Landwirtschaft die Entwicklung des Fabrikwesens, des Kreditwesens und in notwendigem Zusammenhange
    damit des Börsenspiels. Er war der Ansicht, daß, wenn sich in einem Lande der nationale Wohlstand in normaler Weise entwickele, alle diese neuen Erscheinungen erst dann einträten, wenn auf die Landwirtschaft
    bereits ein erheblicher Teil von Arbeit verwandt sei und die Landwirtschaft in wohlgeordnete oder wenigstens
    geregelte Verhältnisse gelangt sei; daß der Reichtum eines Landes gleichmäßig anwachsen müsse und namentlich so,
    daß andere Erwerbszweige die Landwirtschaft nicht überflügelten; daß die Verkehrswege mit dem jeweiligen Zustand
    der Landwirtschaft in Übereinstimmung gehalten werden müßten und daß bei unserer nicht normalen Ausnutzung des
    Bodens die nicht durch ein ökonomisches, sondern durch das politische Bedürfnis hervorgerufenen Eisenbahnen
    verfrüht seien und statt, wie man es erwartet habe, die Landwirtschaft zu heben, sie überflügelt und durch
    Förderung der Entwicklung des Fabrik- und Kreditwesens zum Stillstand gebracht hätten, und daß, ebenso wie die
    einseitige und vorzeitige Entwicklung eines Organs bei einem lebenden Wesen der allgemeinen Entwicklung hinderlich
    sein würde, so auch bei der allgemeinen Entwicklung des Wohlstandes in Rußland das Kreditwesen, die Verkehrswege,
    die Steigerung der Fabriktätigkeit (Dinge, die in Europa, weil dort zeitgemäß, unzweifelhaft notwendig seien) bei
    uns nur Schaden angerichtet hätten, da dadurch die wichtigste Tagesfrage, die Reform der Landwirtschaft, in den
    Hintergrund gedrängt worden sei.
    Während er an seinem Buche schrieb, dachte sie daran, mit welch einer gezwungenen Höflichkeit sich ihr Mann
    gegen den jungen Fürsten Tscharski benommen habe, der ihr am Tage vor der Abreise in recht taktloser Weise den Hof
    gemacht hatte. ›Er ist ja eifersüchtig!‹ dachte sie. ›Mein Gott, wie allerliebst und wie dumm er ist! Eifersüchtig
    um meinetwillen! Wenn er wüßte, daß mir alle diese Leute genauso gleichgültig sind wie unser Koch Peter‹, dachte
    sie, indem sie mit einem ihr selbst seltsam vorkommenden Eigentumsgefühl nach seinem Hinterkopf und seinem roten
    Halse blickte. ›Obwohl es mir leid tut, ihn von seiner Tätigkeit abzulenken (aber mit der hat es ja auch keine
    Eile!), so möchte ich doch gar zu gern sein Gesicht sehen. Ob er es wohl fühlt, daß ich zu ihm hinschaue? Ich will,
    daß er sich umdreht ... Ich will es, nun also!‹ Und sie öffnete die Augen recht weit, in dem Wunsche, dadurch die
    Wirkung ihres Blickes zu verstärken.
    »Ja, diese Erwerbszweige ziehen alle Säfte und Kräfte an sich und verleihen dem nationalen Leben einen
    trügerischen Glanz«, murmelte er vor sich hin, indem er einen Augenblick aufhörte zu schreiben. Dann merkte er, daß
    Kitty ihn ansah und dabei lächelte; er sah sich um.
    »Was gibt es?« fragte er, gleichfalls lächelnd, und stand auf.
    ›Er hat sich wirklich umgesehen!‹ dachte sie.
    »Nichts, ich wollte nur, daß du dich umsehen möchtest«, antwortete sie. Sie blickte ihn dabei an und suchte zu
    erkennen, ob er darüber ärgerlich sei oder nicht, daß sie ihn gestört hatte.
    »Ach, wie wohl wir uns doch fühlen, nun wir beide wieder allein sind! Das heißt, ich meine, ich fühle mich
    wohl«, sagte er und trat zu ihr; sein ganzes

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