Anna Karenina
reizen und den Riß, der die Ursache des ganzen Kummers war, nur noch vergrößern. Ein Gefühl,
das ihm durch die Gewohnheit geläufig war, trieb ihn, die Schuld von sich abzuweisen und ihr zuzuschieben; aber ein
anderes Gefühl, stärker als jenes, riet ihm, den eingetretenen Riß schnell, so schnell wie nur möglich, wieder
auszubessern und ihm keine Zeit zu lassen, sich noch zu erweitern. Eine so ungerechte Beschuldigung auf sich sitzen
zu lassen war ja schmerzlich; aber Kitty durch eine Rechtfertigung weh zu tun, das war noch schlimmer. Wie jemand,
der im Halbschlaf einen quälenden Schmerz fühlt, so wollte er das, was den Schmerz verursachte, von sich losreißen
und wegschleudern und merkte, zur Besinnung kommend, daß das, was den Schmerz verursachte, ein Teil seines eigenen
Selbst war. Die Aufgabe konnte nur darin bestehen, dem kranken Teile beim Überstehen des Schmerzes behilflich zu
sein, und er bemühte sich, dies zu tun.
Sie versöhnten sich. Kitty, die ihre Schuld eingesehen hatte, wenn sie sie auch nicht zugestand, wurde noch
zärtlicher gegen ihn, und beide empfanden ihr Liebesglück doppelt. Aber das verhinderte nicht, daß sich derartige
Zusammenstöße wiederholten, und sogar recht oft und bei den unerwartetsten und nichtigsten Anlässen. Diese
Zusammenstöße kamen oft daher, daß sie beiderseits noch nicht wußten, was dem andern Herzenssache war, oft aber
auch daher, daß sie beide in dieser ersten Zeit häufig schlechter Laune waren. War der eine von ihnen gut gelaunt
und der andere schlecht gelaunt, so wurde der Friede nicht gestört; aber wenn zufällig beide mißgestimmt waren, so
gingen Zusammenstöße aus so unbegreiflich nichtigen Ursachen hervor, daß sie sich nachher gar nicht mehr erinnern
konnten, warum sie eigentlich miteinander gestritten hatten. Freilich war anderseits, wenn sich beide in guter
Stimmung befanden, ihre Freude am Leben auch wieder doppelt. Aber doch war diese erste Zeit für sie beide recht
schwer.
Während der ganzen ersten Zeit machte sich eine Art von Spannung lebhaft fühlbar, als ob die Kette, durch die
sie verknüpft waren, bald nach der einen, bald nach der andern Seite gezogen würde. Überhaupt war dieser Honigmond,
das heißt der erste Monat nach der Hochzeit, von dem auf Grund der überlieferten Anschauung Ljewin soviel erwartet
hatte, keineswegs honigsüß, sondern er blieb in der Erinnerung der beiden Gatten als die schwerste, beschämendste
Zeit ihres Lebens haften. Beide bemühten sich in gleicher Weise im späteren Leben, all die häßlichen, beschämenden
Vorfälle dieser krankhaften Zeitspanne, in der sie beide sich selten in normaler Stimmung befunden hatten und
selten sie selbst gewesen waren, aus ihrem Gedächtnisse auszulöschen.
Erst im dritten Monat ihrer Ehe, nach ihrer Rückkehr aus Moskau, wohin sie zu einmonatigem Aufenthalt gereist
waren, gestaltete sich ihr Leben gleichmäßiger.
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Sie waren eben erst aus Moskau zurückgekommen und freuten sich der Stille und Einsamkeit auf dem Gute. Er saß in
seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch und schrieb. Sie ihrerseits saß in jenem dunkellila Kleid, das sie in den
ersten Tagen der Ehe getragen und nun einmal wieder angezogen hatte und das ihm besonders denkwürdig und teuer war,
auf dem Sofa, jenem altmodischen Ledersofa, das immer, schon zur Zeit von Ljewins Großvater und Vater, in diesem
Zimmer gestanden hatte, und stickte an einer Handarbeit. Er überlegte und schrieb und blieb sich dabei unaufhörlich
mit innigem Vergnügen ihrer Gegenwart bewußt. Seine Beschäftigung mit der Gutswirtschaft und mit dem Buche, in dem
er die Grundlagen eines neuen Systems der Landwirtschaft vortragen wollte, hatte er nicht aufgegeben; aber wie ihm
früher diese Tätigkeit und diese Ideen kleinlich und nichtig erschienen waren im Vergleich mit der Finsternis, die
sich über das ganze Leben ausbreitet, ebenso unwichtig und kleinlich kamen sie ihm jetzt vor gegenüber dem hellen
Glanze des Glücks, der über das ganze ihm noch bevorstehende Leben ausgegossen lag. Er setzte seine Beschäftigungen
fort; aber er fühlte jetzt, daß der Schwerpunkt seiner Neigung nun an einer an deren Stelle lag und daß er
infolgedessen für die Sache eine ganz andere, klarere Anschauung gewonnen hatte. Früher hatte er sich gleichsam aus
dem Leben in diese Tätigkeit hineingerettet. Früher hatte er die Empfindung gehabt, ohne diese Tätigkeit würde sein
Leben gar zu trübe und düster
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