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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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er eben den Text selbst ganz klar verstand – gerade wie bei der Belehrung, daß »plötzlich«
    ein Umstandswort der Art und Weise sei. Sergei blickte erschrocken den Vater an und hatte nur einen Gedanken: ob
    der Vater ihn das Gesagte würde wiederholen lassen, wie er es öfters getan hatte, oder nicht. Dieser Gedanke
    ängstigte ihn so, daß er nun gar nichts mehr verstand. Aber der Vater ließ es ihn diesmal nicht wiederholen und
    ging zu der Aufgabe aus dem Alten Testament über. Die Begebenheiten selbst erzählte Sergei recht befriedigend; aber
    als er Fragen nach dem vorbedeutenden Sinne einiger dieser Begebenheiten beantworten sollte, da wußte er nichts
    Rechtes, obgleich er wegen der gleichen Sache schon einmal bestraft worden war. Die Stelle, von der er gar nichts
    wußte und an der er herumstotterte, während er in den Tisch schnitt und sich auf dem Stuhle schaukelte, das war
    die, wo er über die vorsintflutlichen Patriarchen Auskunft geben sollte. Von diesen kannte er keinen außer Henoch,
    der lebend in den Himmel entrückt wurde. Kurz vorher hatte er noch alle Namen gewußt; aber jetzt hatte er sie ganz
    und gar vergessen, namentlich, weil Henoch seine Lieblingsgestalt aus dem ganzen Alten Testament war und sich in
    seinem Kopfe an die Entrückung des lebenden Henoch in den Himmel eine ganze lange Gedankenreihe anknüpfte, der er
    sich auch jetzt überließ, während er seine Augen auf die Uhrkette seines Vaters und auf einen nur halb zugeknöpften
    Knopf an dessen Weste heftete.
    An den Tod, von dem man ihm so oft erzählt hatte, glaubte Sergei nicht recht. Er glaubte nicht, daß die
    Menschen, die er liebhatte, sterben könnten, und namentlich nicht, daß er selbst einmal sterben werde. Das schien
    ihm völlig unmöglich und unbegreiflich. Aber man sagte ihm, alle Menschen müßten sterben; er hatte sogar mehrmals
    Leute, denen er Glauben schenkte, darüber befragt, und auch diese hatten es ihm bestätigt; unter anderen hatte es
    auch die Kinderfrau gesagt, wiewohl nur mit Widerstreben. Aber Henoch war doch nicht gestorben, folglich starben
    doch nicht alle Menschen. ›Und warum sollte sich denn nicht jeder Mensch vor Gott ebenso verdient machen können und
    dann auch lebend in den Himmel aufgenommen werden?‹ dachte Sergei. Die bösen Menschen, das heißt solche Menschen,
    die Sergei nicht leiden konnte, die konnten sterben; aber die guten konnten alle dasselbe Los haben wie Henoch.
    »Nun also, wie heißen die Patriarchen?«
    »Henoch, Enos ...«
    »Die hattest du ja schon genannt. Schlecht, Sergei, sehr schlecht! Wenn du dir nicht einmal Mühe gibst, das zu
    lernen, was ein Christ am allernotwendigsten wissen muß«, sagte der Vater, indem er aufstand, »was kann dich dann
    überhaupt interessieren? Ich bin unzufrieden mit dir, und Peter Ignatjewitsch« (das war der Lehrer, der die oberste
    Leitung von Sergeis Erziehung hatte) »ist auch mit dir unzufrieden ... Ich muß dich bestrafen.«
    Der Vater und der Lehrer waren beide mit Sergei unzufrieden, und er lernte in der Tat sehr schlecht. Aber man
    konnte durchaus nicht sagen, daß er ein unbefähigter Knabe gewesen wäre. Im Gegenteil, er war weit befähigter als
    jene Knaben, die der Lehrer ihm als Muster hinstellte. Nach der Ansicht des Vaters wollte er nicht lernen, was man
    ihn lehrte. In Wirklichkeit aber konnte er es nicht lernen. Er konnte es nicht lernen, weil in seiner Seele
    Forderungen vorhanden waren, die für ihn mehr Verbindlichkeit hatten als jene, die der Vater und der Erzieher an
    ihn stellten. Diese beiderseitigen Forderungen standen zueinander in Widerspruch, und so lag er mit seinen
    Erziehern geradezu im Kampfe.
    Er war neun Jahre alt, er war ein Kind; aber sein Herz kannte er, es war ihm teuer, und er hütete es, so wie das
    Lid das Auge hütet, und ohne den Schlüssel der Liebe ließ er niemand in sein Herz hinein. Seine Erzieher klagten
    über ihn, daß er nicht lernen wolle, und doch war seine Seele von Wissensdurst erfüllt. Er lernte bei Kapitonütsch,
    bei der Kinderfrau, bei Nadjenka, bei Wasili Lukitsch, aber nicht bei seinen Lehrern. Das Wasser, auf das der Vater
    und der Lehrer für ihre Mühlräder warteten, war schon längst durchgesickert und arbeitete an einer anderen
    Stelle.
    Der Vater bestrafte Sergei dadurch, daß er ihn nicht zu Lydia Iwanownas Nichte Nadjenka gehen ließ; aber diese
    Strafe wurde für Sergei zu einem Glück. Wasili Lukitsch war guter Laune und zeigte ihm, wie man Windmühlen baut.
    Der

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