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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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mochte.

26
    »Nun, was gibt's, Kapitonütsch?« sagte der kleine Sergei, als er lustig und mit roten Backen am Tage vor seinem
    Geburtstag vom Spaziergang zurückkam und sich anschickte, seinen faltenreichen Überzieher dem großgewachsenen alten
    Pförtner einzuhändigen, der von seiner Höhe lächelnd auf den kleinen Mann herabschaute. »Nun, ist heute wieder der
    Beamte mit dem Arm in der Binde dagewesen? Hat ihn Papa empfangen?«
    »Ja, er hat ihn empfangen. Sobald der Subdirektor weggegangen war, habe ich ihn gemeldet«, antwortete der
    Pförtner mit vergnügtem Augenzwinkern. »Bitte, ich möchte Ihnen beim Ausziehen behilflich sein.«
    »Sergei«, sagte der Hofmeister des Knaben – ein Russe, kein Ausländer –, der in der Tür, die nach den inneren
    Zimmern führte, stehengeblieben war, »ziehen Sie sich den Überzieher selbst aus.«
    Sergei hatte zwar den nur mäßig lauten Zuruf des Hofmeisters gehört, achtete aber nicht darauf. Er blieb stehen,
    faßte mit der Hand den Schultergurt des Pförtners an und sah ihm ins Gesicht.
    »Nun, und hat Papa etwas für ihn getan?«
    Der Pförtner nickte bejahend mit dem Kopfe.
    Der Beamte mit dem Arm in der Binde, der schon siebenmal gekommen war, um Alexei Alexandrowitsch eine Bitte
    vorzutragen, beschäftigte auch Sergei und den Pförtner. Sergei hatte ihn einmal auf dem Flur getroffen und gehört,
    wie er den Pförtner kläglich gebeten hatte, ihn zu melden; er müsse sonst mit seinen Kindern elend umkommen.
    Seitdem war Sergeis Teilnahme für den Beamten erregt, dem er nachher noch einmal auf dem Flur begegnet war.
    »Nun, und hat er sich sehr gefreut?« fragte er.
    »Aber selbstverständlich! Als er wegging, hüpfte er ordentlich vor Freuden.«
    »Ist etwas für mich gebracht worden?« fragte Sergei nach einer kleinen Pause.
    »Ja, junger Herr«, antwortete der Pförtner flüsternd und nickte mit dem Kopfe, »von der Gräfin ist etwas
    gekommen.«
    Sergei wußte sofort, daß das, wovon der Pförtner sprach, ein Geschenk von der Gräfin Lydia Iwanowna zu seinem
    Geburtstag sei.
    »Was du sagst! Wo ist es?«
    »Kornei hat es zum Papa getragen. Es ist gewiß etwas sehr Schönes!«
    »Wie groß ist es? So groß?«
    »Ein bißchen kleiner; aber schön wird es schon sein.«
    »Ein Buch?«
    »Nein, ein Spielzeug. Aber nun gehen Sie, gehen Sie, Wasili Lukitsch ruft!« sagte der Pförtner, da er die
    Schritte des sich nähernden Hofmeisters hörte. Er deutete mit dem Kopf nach Wasili Lukitsch Wunitsch hin und machte
    behutsam das in dem halb ausgezogenen Handschuh steckende Händchen von seinem Gurt los, an dem es ihn
    festhielt.
    »Wasili Lukitsch, ich komme im Augenblick!« antwortete Sergei mit jenem vergnügten, freundlichen Lächeln, das
    den pünktlichen Wasili Lukitsch immer besiegte.
    Aber Sergei war zu vergnügt und glücklich, als daß er es hätte übers Herz bringen können, seinem Freunde, dem
    Pförtner, gegenüber von der Freude zu schweigen, von der er auf seinem Spaziergang im Sommergarten durch die Nichte
    der Gräfin Lydia Iwanowna erfahren hatte. Diese Freude erschien ihm noch besonders wichtig durch ihr Zusammenfallen
    mit der Freude des armen Beamten und mit seiner eigenen Freude darüber, daß Spielzeug für ihn abgegeben war. Sergei
    hatte die Empfindung, als sei heute ein Tag, an dem alle Menschen froh und vergnügt sein müßten.
    »Weißt du schon, daß Papa den Alexander-Newski-Orden bekommen hat?«
    »Wie werde ich das nicht wissen! Es sind doch schon Gratulanten gekommen.«
    »Nun, und hat er sich darüber gefreut?«
    »Wie sollte er sich über eine solche Gnade des Zaren nicht freuen? Ohne Zweifel hat er sie verdient«, sagte der
    Pförtner ernst und würdevoll.
    Sergei wurde nachdenklich und betrachtete das ihm bis auf die geringsten Einzelheiten genau bekannte Gesicht des
    Pförtners, namentlich das Kinn, das zwischen den beiden Hälften des grauen Backenbartes herunterhing und das außer
    Sergei, der immer nur von unten zu ihm hinaufsah, noch niemand zu sehen bekommen hatte.
    »Nun, deine Tochter hat dich wohl schon lange nicht besucht?« Die Tochter des Pförtners war
    Ballett-Tänzerin.
    »An Wochentagen kann sie ja doch nicht kommen. Die haben auch ihren Unterricht. Und Sie haben auch Ihren
    Unterricht, junger Herr, gehen Sie jetzt nur!«
    Als Sergei in sein Zimmer gekommen war, teilte er, statt sich hinzusetzen und seine Aufgaben zu lernen, dem
    Hofmeister seine Vermutung mit, daß das, was für ihn gebracht wäre, gewiß eine

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