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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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ganze Abend verging bei dieser Arbeit und bei phantastischen Überlegungen, wie es möglich sei, eine solche
    Mühle anzufertigen, bei der man sich selbst mit herumdrehen könne; man müßte sich mit den Händen an den Flügeln
    festhalten oder sich anbinden lassen und sich dann mit herumdrehen. An seine Mutter dachte Sergei den ganzen Abend
    nicht mehr; aber als er schon zu Bett ging, erinnerte er sich auf einmal wieder an sie und betete leise mit seinen
    eigenen Worten darum, daß seine Mutter morgen, an seinem Geburtstage, sich nicht länger verbergen, sondern zu ihm
    kommen möchte.
    »Wasili Lukitsch, wissen Sie, worum ich noch besonders gebetet habe?«
    »Daß Sie künftig besser lernen möchten?«
    »Nein.«
    »Um Spielsachen?«
    »Nein. Falsch geraten. Es ist etwas sehr Schönes, aber ein Geheimnis! Wenn es in Erfüllung geht, dann werde ich
    es Ihnen sagen. Haben Sie es noch nicht erraten?«
    »Nein, ich kann es nicht raten. Sagen Sie es mir doch«, erwiderte Wasili Lukitsch und lächelte dabei, was bei
    ihm selten vorkam. »Nun, legen Sie sich nur jetzt hin; ich werde das Licht auslöschen.«
    »Ohne Licht sehe ich das, woran ich denke und worum ich gebetet habe, noch deutlicher vor mir. Aber da hätte ich
    Ihnen beinahe mein Geheimnis verraten!« sagte Sergei vergnügt lachend.
    Als das Licht hinausgetragen war, glaubte Sergei zu hören und zu fühlen, daß seine Mutter da sei, an seinem
    Bette stehe, sich über ihn beuge und ihn zärtlich und liebevoll anblicke. Aber dann erschienen Windmühlen, ein
    Federmesser; alles verschwamm ineinander, und er schlief ein.

28
    Nach ihrer Ankunft in Petersburg waren Wronski und Anna in einem der besten Hotels abgestiegen. Wronski wohnte
    für sich in einem unteren Stockwerk, Anna mit dem Kinde, der Amme und dem Kammermädchen oben, in einer größeren
    Wohnung von vier Zimmern.
    Gleich am ersten Tage nach der Ankunft fuhr Wronski zu seinem Bruder; dort traf er außer seiner Schwägerin auch
    seine Mutter, die in geschäftlichen Angelegenheiten aus Moskau herübergekommen war. Beide begegneten ihm wie
    gewöhnlich; sie erkundigten sich nach seiner Auslandsreise, sprachen von gemeinsamen Bekannten, erwähnten aber
    seine Beziehung zu Anna mit keinem Wort. Sein Bruder dagegen, der ihn am nächsten Vormittag besuchte, fragte von
    selbst nach ihr, und Alexei Wronski sagte ihm geradeheraus, er betrachte seine Verbindung mit Frau Karenina wie
    eine Ehe; er hoffe, die Scheidung zu bewerkstelligen und sie dann zu heiraten; bis dahin sehe er sie genau ebenso
    als seine Frau an wie jeder Ehemann seine angetraute Gattin, und er bitte ihn, dies der Mutter und seiner Frau
    mitzuteilen.
    »Wenn die gesellschaftlichen Kreise dies nicht gutheißen, so ist mir das völlig gleichgültig«, sagte Wronski.
    »Wenn aber meine Angehörigen mit mir in verwandtschaftlichen Beziehungen zu bleiben wünschen, so müssen sie auch zu
    meiner Frau in denselben Beziehungen stehen.«
    Der ältere Bruder, der stets die Meinung des jüngeren achtete, war sich, ehe diese Frage nicht durch die Welt
    entschieden sei, nicht ganz klar darüber, ob Alexei recht habe oder nicht; er für seine Person hatte nichts dagegen
    und ging mit ihm zusammen zu Anna hinauf.
    Wronski redete in Gegenwart seines Bruders, ebenso wie in Gegenwart aller anderen, Anna mit Sie an und verkehrte
    mit ihr wie mit einer näheren Bekannten; aber es galt dabei als selbstverständlich, daß der Bruder ihr Verhältnis
    kenne, und es wurde davon gesprochen, daß Anna mit nach Wronskis Gut übersiedeln werde.
    Trotz aller seiner Weltkenntnis befand sich Wronski infolge seiner neuen, eigenartigen Lage in einem seltsamen
    Irrtum. Er hätte, schien es, nicht darüber in Zweifel sein können, daß die höheren Gesellschaftskreise ihm mit Anna
    verschlossen waren; aber es waren jetzt in seinem Kopfe allerlei unklare Vorstellungen entstanden, als ob das nur
    in früherer Zeit so gewesen sei, jetzt aber in einer Zeit des schnellen Fortschritts (ohne es selbst zu merken, war
    er jetzt auf allen Gebieten ein Anhänger des Fortschritts geworden) die Anschauungen der Gesellschaft sich geändert
    hätten und die Frage, ob sie Zutritt zur Gesellschaft erhalten würden, noch nicht entschieden sei. ›Natürlich‹,
    dachte er, ›die Hofgesellschaft wird ihr keine Aufnahme gewähren; aber die Leute, die uns näherstehen, können und
    müssen die Sache in der richtigen Weise auffassen.‹
    Man kann ein paar Stunden lang mit untergeschlagenen Beinen in

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