Anna Karenina
ein und derselben Stellung dasitzen, wenn man
weiß, daß einen nichts hindert, diese Stellung zu ändern; aber wenn der Mensch weiß, daß er so mit
untergeschlagenen Beinen dasitzen muß, dann bekommt er einen Krampf, und die Beine zucken und drängen dahin,
wohin er sie ausstrecken möchte. Dasselbe Gefühl machte Wronski der Gesellschaft gegenüber durch. Obgleich er in
der Tiefe seines Herzens wußte, daß die Gesellschaft für sie beide verschlossen sei, so wollte er doch einen
Versuch machen, ob sie sich nicht doch geändert habe und bereit sei, sie zu empfangen. Aber er merkte sehr bald,
daß die Gesellschaft zwar ihm persönlich zugänglich, für Anna aber verschlossen war. Wie bei dem
Katz-und-Maus-Spiel senkten sich die Arme, die sich für ihn erhoben hatten, sogleich vor Anna nieder.
Unter den Damen der Petersburger Gesellschaft, mit denen Wronski zusammenkam, war eine der ersten seine Base
Betsy.
»Endlich!« begrüßte sie ihn erfreut. »Und Anna? Wie ich mich freue! Wo sind Sie denn abgestiegen? Ich kann mir
denken, wie schrecklich Ihnen unser Petersburg nach Ihrer entzückenden Reise vorkommt; ich kann mir Ihren Honigmond
in Rom vorstellen. Wie steht es denn mit der Scheidung? Ist das alles erledigt?«
Wronski spürte, daß Betsys Entzücken geringer wurde, als sie hörte, daß eine Scheidung noch nicht stattgefunden
habe.
»Ich weiß, man wird mich steinigen«, sagte sie, »aber ich werde Anna trotzdem besuchen; jawohl, ich besuche sie
unter allen Umständen. Sie beabsichtigen wohl nicht lange hier zu bleiben?«
Wirklich machte sie gleich noch am selben Tage Anna einen Besuch; aber ihr Ton war jetzt ganz anders als früher.
Sie war augenscheinlich stolz auf ihre Kühnheit und wünschte, daß Anna die Treue ihrer Freundschaft auch gebührend
würdigen möge. Sie blieb nicht länger als zehn Minuten, plauderte von Neuigkeiten aus der Gesellschaft und sagte
beim Abschied:
»Sie haben mir noch nicht gesagt, wann die Scheidung stattfinden wird. Freilich, ich für meine Person setze mich
über solche Rücksichten hinweg; aber andere, engherzigere Leute werden sich kühl gegen Sie benehmen, solange Sie
noch nicht wirklich verheiratet sind. Und so etwas ist ja jetzt so einfach. Ça se fait. 1 Also Sie reisen am Freitag? Schade, daß wir uns nicht mehr
sehen.«
Aus Betsys Ton konnte Wronski ersehen, was er von der Gesellschaft zu erwarten habe; aber er wollte noch einen
Versuch in seiner eigenen Familie machen. Auf seine Mutter setzte er dabei keine Hoffnung. Er wußte, daß seine
Mutter, die bei der ersten Bekanntschaft mit Anna sich so entzückt von ihr gezeigt hatte, jetzt gegen sie
unerbittlich war, weil sie ihr die Schuld daran zuschrieb, daß die Laufbahn ihres Sohnes in die Brüche gegangen
war. Aber große Hoffnungen setzte er auf Warja, die Frau seines Bruders. Er meinte, diese werde keinen Stein auf
Anna werfen, sondern einfach und entschlossen zu ihr kommen und sie auch bei sich empfangen.
Daher fuhr Wronski gleich am folgenden Tage noch einmal zu ihr und sprach, da er sie allein angetroffen hatte,
seinen Wunsch ohne Umschweife aus.
»Du weißt, Alexei«, erwiderte sie, nachdem sie ihn hatte ausreden lassen, »wie gern ich dich habe und daß ich
bereit bin, alles für dich zu tun; aber ich habe geschwiegen, weil ich wußte, daß ich dir und Anna Arkadjewna nicht
von Nutzen sein kann.« Sie bediente sich geflissentlich der vollen Bezeichnung Anna Arkadjewna, um ihre Achtung
auszudrücken. »Bitte, glaube nicht, daß ich über sie den Stab breche, durchaus nicht. Vielleicht hätte ich an ihrer
Stelle dasselbe getan. Ich möchte nicht auf Einzelheiten eingehen und kann es auch unmöglich«, fuhr sie fort, indem
sie ihm zaghaft in das finstere Gesicht blickte. »Aber man muß die Dinge bei ihrem Namen nennen. Du willst, daß ich
sie besuche, sie bei mir empfange und sie dadurch in der Gesellschaft rechtfertige; aber du mußt dir doch bei
näherer Überlegung selbst sagen, daß ich das schlechterdings nicht tun kann. Ich habe heranwachsende Töchter, und
ich muß auch um meines Mannes willen in der Gesellschaft verkehren. Nun, sagen wir einmal, ich mache Anna
Arkadjewna einen Besuch; dann wird sie merken, daß ich sie nicht zu mir einladen kann oder es so einrichten muß,
daß sie dabei nicht mit Leuten zusammentrifft, die die Sache anders ansehen; und das wird kränkend für sie sein.
Ich kann sie nicht hinaufheben ...«
»Meines Erachtens ist sie nicht
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