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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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Tränen vergießen, so wie er früher einmal eines Abends sich vor ihre Füße hingelegt hatte, und sie
    hatte ihn gekitzelt, und er hatte gelacht und sie in die weiße, mit Ringen geschmückte Hand gebissen. Später,
    nachdem er zufällig von der Kinderfrau gehört hatte, daß seine Mutter nicht gestorben sei, und sein Vater und Lydia
    Iwanowna ihm erklärt hatten, sie sei für ihn tot, weil sie schlecht geworden sei (was er nun schon gar nicht
    glauben konnte, weil er sie so sehr liebte), da suchte er genau ebenso weiter nach ihr und wartete auf sie. Heute
    war im Sommergarten eine Dame mit einem lila Schleier gewesen; die hatte er, während sie sich ihnen auf einer
    Seitenallee näherte, klopfenden Herzens mit den Augen verfolgt, in der Hoffnung, sie sei es. Aber die Dame war gar
    nicht bis zu ihnen herangekommen, sondern vorher auf einmal abgebogen und verschwunden. Heute empfand Sergei
    stärker als je einen Anfall von Sehnsucht nach ihr, und jetzt hatte er, während er auf den Vater wartete, alles um
    sich vergessend, die ganze Tischkante mit dem Federmesser zerschnitten, blickte mit glänzenden Augen vor sich hin
    und dachte an sie.
    »Der Papa kommt«, sagte Wasili Lukitsch und riß ihn aus seinen Gedanken.
    Sergei sprang auf, trat zu seinem Vater und küßte ihm die Hand; darauf blickte er ihn aufmerksam an und suchte
    in seinem Gesichte nach einem Zeichen von Freude über den Alexander-Newski-Orden.
    »War es hübsch auf dem Spaziergange?« fragte Alexei Alexandrowitsch, indem er sich auf seinen Lehnsessel setzte
    und das Alte Testament zu sich heranzog und aufschlug. Obwohl Alexei Alexandrowitsch wiederholt zu Sergei gesagt
    hatte, jeder Christ müsse die biblische Geschichte fest innehaben, mußte er selbst, wo es sich um das Alte
    Testament handelte, häufig im Buche nachsehen, und Sergei hatte das bemerkt.
    »Ja, es war sehr lustig, Papa«, antwortete Sergei; er hatte sich auf die Kante des Stuhles gesetzt und
    schaukelte mit ihm, was verboten war. »Ich habe Nadjenka gesehen.« (Nadjenka war Lydia Iwanownas Nichte und wurde
    bei ihr erzogen.) »Sie hat mir gesagt, Sie hätten einen neuen Orden bekommen. Freuen Sie sich, Papa?«
    »Erstens schaukle, bitte, nicht mit dem Stuhle«, erwiderte Alexei Alexandrowitsch. »Zweitens sollen wir unsere
    Freude nicht am Lohne haben, sondern an der Arbeit. Es wäre mir lieb, wenn du das einsähest. Denn wenn du nur
    deshalb arbeitest und lernst, um eine Belohnung zu erhalten, dann wird dir die Arbeit schwer vorkommen; wenn du
    aber arbeitest« (dies sagte Alexei Alexandrowitsch in Erinnerung daran, wie er sich durch das Pflichtbewußtsein bei
    der langweiligen Arbeit des heutigen Vormittags aufrechterhalten hatte; er hatte einhundertundachtzehn
    Schriftstücke zu unterschreiben gehabt) »aus Liebe zur Arbeit, so wirst du in der Arbeit selbst deinen Lohn
    finden.«
    Sergeis Augen, die soeben noch vor Zärtlichkeit und Heiterkeit gestrahlt hatten, wurden trübe und senkten sich
    unter dem Blick des Vaters. Das war derselbe ihm schon längst bekannte Ton, in dem der Vater immer mit ihm
    verkehrte und auf den Sergei bereits einzugehen gelernt hatte. Der Vater redete mit ihm stets (das war Sergeis
    Empfindung dabei), wie wenn er ein Geschöpf seiner Phantasie vor sich hätte, einen von den Knaben, wie sie in
    Büchern vorkamen, aber mit ihm, Sergei, gar keine Ähnlichkeit hatten. Und Sergei stellte sich im Verkehr mit dem
    Vater immer nach Möglichkeit so, als sei er einer dieser in den Büchern vorkommenden Knaben.
    »Ich hoffe, du verstehst das!« sagte der Vater.
    »Ja, Papa«, antwortete Sergei, indem er sich anstellte, als sei er jenes Phantasiewesen.
    Die Aufgabe für diese Stunde bestand im Auswendiglernen einiger Sprüche aus dem Evangelium und in der
    Wiederholung des Anfangs des Alten Testaments. Die Sprüche aus dem Evangelium hatte Sergei ganz gut gelernt; aber
    in dem Augenblick, wo er sie aufsagte, zerstreute er sich durch die Betrachtung des Stirnbeins seines Vaters, das
    an der Schläfe einen scharfen Knick bildete, und verhaspelte sich so, daß er von dem Ende des einen Verses in den
    Anfang eines mit dem gleichen Worte beginnenden anderen Verses hineingeriet. Alexei Alexandrowitsch betrachtete
    dies als einen deutlichen Beweis dafür, daß der Knabe das, was er aufsagte, nicht verstand, und das machte ihn
    verdrießlich.
    Er runzelte die Stirn und begann eine Erläuterung, die Sergei schon oft gehört hatte, aber niemals hatte
    verstehen können, weil

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