Anna Karenina
tant
mieux 1 .«
»Ich weiß nicht, worauf Sie anspielen, maman«, antwortete der Sohn in trockenem Tone. »Aber wenn's Ihnen recht
ist, maman, wollen wir jetzt gehen.«
Frau Karenina kam wieder in den Wagen herein, um von der Gräfin Abschied zu nehmen.
»Sehen Sie wohl, Gräfin, Sie haben jetzt Ihren Sohn gefunden und ich meinen Bruder«, sagte sie heiter. »Und mein
Vorrat an Geschichten war auch vollständig erschöpft; weiter hätte ich nichts mehr zu erzählen gehabt.«
»Oh, nicht doch!« erwiderte die Gräfin und faßte sie bei der Hand. »Mit Ihnen könnte ich rund um die Welt reisen
und würde mich nicht langweilen. Sie gehören zu jenen liebenswürdigen Frauen, mit denen es sich angenehm bald
einmal plaudern, bald einmal schweigen läßt. Und über Ihren Sohn machen Sie sich nur, bitte, keine Gedanken; immer
bei einem Kinde zu bleiben, ist ja doch nicht möglich.«
Frau Karenina stand da, ohne sich zu bewegen, in sehr gerader Haltung; ihre Augen lächelten.
»Anna Arkadjewna«, bemerkte die Gräfin erklärend zu ihrem Sohne, »hat ein Söhnchen, ich glaube von acht Jahren;
sie hat sich bisher noch nie von ihm getrennt und grämt sich nun darüber, daß sie ihn verlassen hat.«
»Ja, die Gräfin und ich haben die ganze Zeit über von unseren Söhnen gesprochen, sie von dem ihrigen und ich von
dem meinigen«, sagte Frau Karenina, und wieder erhellte ein Lächeln ihr Gesicht, ein freundliches Lächeln, das
Wronski galt.
»Das hat Sie höchstwahrscheinlich sehr gelangweilt«, antwortete er, indem er diesen Ball der Koketterie, den sie
ihm zuwarf, sofort im Fluge auffing. Aber sie hatte offenbar keine Lust, das Gespräch in diesem Tone fortzusetzen,
und wandte sich wieder der alten Gräfin zu:
»Ich danke Ihnen sehr. Die Reise ist mir so schnell vergangen, daß ich es gar nicht gemerkt habe. Auf
Wiedersehen, Gräfin!«
»Leben Sie wohl, meine Beste!« erwiderte die Gräfin. »Lassen Sie mich Ihr liebes Gesichtchen küssen. Als alte
Frau sage ich Ihnen einfach und geradezu, daß ich Sie sehr liebgewonnen habe.«
Wie herkömmlich auch diese Redensart war, Frau Karenina hielt sie offenbar für aufrichtig gemeint und freute
sich herzlich darüber. Sie errötete, beugte sich ein wenig hinab und bot ihre Wangen den Lippen der Gräfin dar;
dann richtete sie sich wieder auf und gab mit jenem Lächeln, das bei ihr so oft zwischen Lippen und Augen hin und
her wanderte, Wronski die Hand. Er drückte diese kleine Hand und empfand mit innigem Vergnügen, wie einen
besonderen Genuß, den kräftigen Druck, mit dem sie fest und ungezwungen die seine schüttelte. Dann verließ sie das
Abteil mit dem raschen Gange, der ihren ziemlich vollen Körper mit so erstaunlicher Leichtigkeit trug.
»Eine allerliebste Frau!« sagte die alte Dame.
Dasselbe dachte auch ihr Sohn. Er folgte ihr mit den Augen, bis ihre anmutige Gestalt verschwunden war, und sein
Gesicht behielt den lächelnden Ausdruck bei. Durch das Fenster sah er noch, wie sie zu ihrem Bruder trat, ihre Hand
auf seinen Arm legte und ein lebhaftes Gespräch mit ihm begann, das offenbar auf ihn, Wronski, keinerlei Bezug
hatte, und das verdroß ihn.
»Also, maman, Sie sind ganz wohlauf?« fragte er noch einmal, zu seiner Mutter gewendet.
»Vollkommen, es geht alles vorzüglich. Alexander war sehr liebenswürdig. Und Warja ist sehr hübsch geworden. Sie
hat etwas überaus Interessantes.«
Damit begann sie wieder von den Dingen zu erzählen, die sie am meisten interessierten: von der Taufe ihres
Enkels, zu der sie nach Petersburg gereist war, und von der außerordentlich gnädigen Gesinnung des Kaisers gegen
ihren ältesten Sohn.
»Da ist auch Lawrenti«, sagte Wronski, durch das Fenster hinausblickend. »Wenn es Ihnen gefällig ist, wollen wir
jetzt gehen.«
Der alte Haushofmeister, der die Gräfin auf der Reise begleitet hatte, erschien im Wagen mit der Meldung, daß
alles bereit sei, und die Gräfin erhob sich, um zu gehen.
»Gehen wir!« sagte Wronski. »Jetzt ist es nicht mehr so voll auf dem Bahnsteig.«
Das Mädchen nahm die Reisetasche und das Hündchen, der Haushofmeister und ein Gepäckträger das übrige
Handgepäck. Wronski reichte der Mutter den Arm; aber als sie eben aus dem Wagen gestiegen waren, liefen plötzlich
einige Männer mit erschrockenen Gesichtern an ihnen vorbei, darunter auch der Stationsvorsteher mit seiner
grellfarbigen Mütze. Offenbar war etwas Ungewöhnliches vorgefallen. Alles lief vom Zuge weg nach
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