Anna Karenina
Gesellschaft festgestellt. Er entschuldigte sich und schickte sich nun an, in
den Wagen einzusteigen, fühlte sich jedoch veranlaßt, sich noch einmal nach ihr umzusehen, nicht deshalb, weil sie
sehr schön war, auch nicht wegen ihrer vornehmen Erscheinung und bescheidenen Anmut, die in ihrer ganzen Gestalt
zur Erscheinung kam, sondern weil in dem Ausdrucke des lieblichen Gesichtes, als sie an ihm vorbeiging, etwas ganz
besonders Angenehmes und Freundliches gelegen hatte. Als er sich umschaute, wandte sie gleichfalls den Kopf zurück.
Die glänzenden grauen, durch die dichten Wimpern schwarz erscheinenden Augen richteten sich mit prüfender
Aufmerksamkeit und freundlichem Ausdrucke auf sein Gesicht, als ob sie in ihm einen Bekannten erkenne, wandten sich
dann aber sofort von ihm ab und der vorüberströmenden Menge zu, als wenn sie dort jemand suchten. Dieser kurze
Blick hatte Wronski doch die verhaltene Lebhaftigkeit erkennen lassen, die wie ein Schimmer auf ihrem Gesichte
spielte und zwischen den glänzenden Augen und den roten, leise lächelnden Lippen hin und her huschte. Es war, als
schlösse ihr Wesen eine solche Überfülle von Lebenslust ein, daß diese sich unwillkürlich bald in dem Glanze der
Augen, bald in dem Lächeln des Mundes bekunden müsse. Und wenn sie diesen Glanz in den Augen absichtlich dämpfte,
so leuchtete er wider ihren Willen in dem kaum wahrnehmbaren Lächeln auf.
Wronski stieg in den Wagen. Seine Mutter, eine hagere alte Dame mit schwarzen Augen und schwarzen Löckchen,
betrachtete ihren Sohn mit zusammengekniffenen Augen und lächelte dann ein wenig mit den schmalen Lippen. Darauf
erhob sie sich von dem Polstersitze, übergab der Kammerjungfer eine kleine Reisetasche und streckte ihrem Sohne
ihre kleine, trockene Hand zum Kusse hin; dann hob sie seinen Kopf von ihrer Hand in die Höhe und küßte ihn auf die
Wangen.
»Hast du mein Telegramm erhalten?« fragte sie. »Bist du gesund? Ja? Nun, Gott sei Dank!«
»Hatten Sie eine gute Fahrt?« fragte der Sohn seinerseits, indem er sich neben sie setzte und unwillkürlich nach
einer weiblichen Stimme vor der Tür hinhorchte. Er wußte, daß es die Stimme der Dame war, der er beim Hereinkommen
begegnet war.
»Ich kann trotzdem nicht darauf eingehen«, sagte die Stimme der Dame.
»Das ist so eine Petersburger Anschauung, gnädige Frau.«
»Nicht eine Petersburger Anschauung, sondern einfach eine weibliche.«
»Schade, nun, dann gestatten Sie mir, Ihnen die Hand zu küssen.«
»Auf Wiedersehen, Iwan Petrowitsch! Bitte, sehen Sie sich doch einmal um, ob mein Bruder nicht da ist, und
schicken Sie ihn zu mir her!« sagte die Dame dicht an der Tür und kam wieder in das Abteil herein.
»Nun, haben Sie Ihren Bruder gefunden?« fragte die Gräfin Wronskaja, sich zu der Dame wendend.
Wronski wurde sich jetzt darüber klar, daß dies Frau Karenina sein müsse.
»Ihr Bruder ist hier«, sagte er und erhob sich. »Entschuldigen Sie, daß ich Sie nicht sogleich erkannt habe;
aber unsere Bekanntschaft ist ja nur so kurz gewesen«, fuhr er mit einer Verbeugung fort, »daß Sie sich meiner
gewiß gar nicht erinnern.«
»O doch«, versetzte sie, »und ich hätte Sie auch wiedererkannt, da Ihre liebe Mutter und ich auf der ganzen
Reise fast nur von Ihnen gesprochen haben.« Bei diesen Worten ließ sie endlich ihre bisher zurückgedämmte
Lebhaftigkeit in einem Lächeln zum Ausdruck kommen. »Aber meinen Bruder sehe ich trotz dem nicht.«
»Rufe ihn doch, Alexei!« sagte die alte Gräfin.
Wronski trat auf den Bahnsteig hinaus und rief: »Oblonski! Hier!«
Aber Frau Karenina wartete nicht so lange, bis ihr Bruder herankam, sondern stieg, sobald sie ihn erblickte, mit
festem, leichtem Schritte aus dem Wagen. Und sobald der Bruder zu ihr trat, legte sie mit einer Bewegung, von deren
Entschiedenheit und Anmut Wronski überrascht war, ihm den linken Arm um den Hals, zog den Bruder rasch an sich und
küßte ihn herzhaft. Wronski blickte unverwandt zu ihr hin und lächelte, ohne selbst recht zu wissen, worüber. Aber
da erinnerte er sich, daß seine Mutter auf ihn wartete, und stieg wieder in den Wagen.
»Nicht wahr, eine allerliebste Frau?« sagte die Gräfin mit Bezug auf Frau Karenina. »Ihr Mann hat sie zu mir in
dieses Abteil gebracht, und ich habe meine rechte Freude an ihr gehabt. Auf der ganzen Fahrt haben wir uns
miteinander unterhalten. Nun, und du, wie man hört ... vous filez le parfait amour. Tant mieux, mon cher,
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