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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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Schulter durch ihre Hand und ein leises Flüstern.
    Es schienen bei ihr das Bedauern, ihn zu wecken, und der Wunsch, mit ihm zu reden, miteinander zu kämpfen.
    »Konstantin, erschrick nicht. Es ist nichts Schlimmes. Aber mir scheint ... Es muß Jelisaweta Petrowna geholt
    werden.«
    Das Licht war wieder angezündet. Sie saß auf dem Bett und hatte ein Strickzeug in den Händen, mit dem sie sich
    in den letzten Tagen beschäftigt hatte.
    »Bitte, erschrick nicht; es ist nichts Schlimmes. Ich fürchte mich nicht im geringsten«, fügte sie hinzu, als
    sie sein erschrockenes Gesicht sah, und drückte seine Hand an ihre Brust und dann an ihre Lippen.
    Er sprang, ohne von sich selbst zu wissen, hastig auf, zog, ohne die Augen von ihr zu wenden, seinen Schlafrock
    an und blieb stehen, indem er sie immer noch ansah. Er hätte gehen müssen; aber er konnte sich von ihrem Blick
    nicht losreißen. So lieb und vertraut ihm ihr Gesicht war, so gut er ihre Mienen und ihren Blick kannte: aber so
    hatte er sie noch nie gesehen. Wie garstig und schändlich kam er sich ihr gegenüber vor, wie er sie jetzt vor sich
    sah, wenn er sich erinnerte, wie schwer er sie gestern gekränkt hatte! Ihr gerötetes Gesicht, von dem weichen Haar
    umgeben, das sich aus dem Nachthäubchen hervordrängte, strahlte vor Freude und Entschlossenheit.
    So wenig Gekünsteltes und Gemachtes auch überhaupt in Kittys Charakter vorhanden war, so war Ljewin doch
    überrascht durch das, was sich jetzt vor ihm enthüllte, als plötzlich alle Hüllen fielen und das innerste Wesen
    ihrer Seele aus ihren Augen hervorstrahlte. Und in dieser Natürlichkeit und Enthüllung wurde sie selbst, ihre
    eigenste Persönlichkeit, die er so liebte, ihm noch deutlicher sichtbar. Sie blickte ihn lächelnd an; aber
    plötzlich zuckten ihre Brauen; sie hob den Kopf in die Höhe, und schnell an ihn herantretend, ergriff sie seine
    Hand und drückte sich mit dem ganzen Leib gegen ihn, wobei sie ihn mit ihrem heißen Atem umgab. Sie litt und schien
    ihm ihr Leid zu klagen. Und im ersten Augenblick kam ihm gewohnheitsmäßig die Vorstellung, daß er daran schuld sei.
    Aber in ihrem Blicke lag eine Zärtlichkeit, die gleichsam sagte, daß sie ihm wegen dieser Leiden keinen Vorwurf
    mache, ja, ihn dafür liebe. ›Wenn also ich nicht daran schuld bin, wer ist dann daran schuld?‹ dachte er
    unwillkürlich und suchte nach dem Urheber dieser Leiden, um ihn zu bestrafen; aber es gab keinen Schuldigen. Sie
    litt und klagte, und zugleich war sie stolz auf diese Leiden und freute sich ihrer und liebte sie. Er sah, daß sich
    in ihrer Seele etwas Schönes, Herrliches vollzog; aber was es eigentlich war, dafür fehlte ihm das Verständnis. Das
    ging über seine Fassungskraft hinaus.
    »Ich habe schon zu Mama geschickt. Und du hole so schnell wie möglich Jelisaweta Petrowna ... Konstantin! ... Es
    ist nichts, es ist schon vorüber.«
    Sie trat von ihm zurück und klingelte.
    »Also nun geh jetzt, Pascha kommt. Es geht mir ganz gut.«
    Und Ljewin sah mit Erstaunen, daß sie nach dem Strickzeug griff, das sie in der Nacht geholt hatte, und wieder
    zu stricken anfing.
    Als Ljewin aus der einen Tür hinausging, hörte er, wie durch die andere das Mädchen hereinkam. Er blieb an der
    Tür stehen und hörte, daß Kitty dem Mädchen ins einzelne gehende Anweisungen gab und selbst mit ihr das Bett
    umstellte.
    Er zog sich an, und während das Pferd angespannt wurde, da noch keine Droschken auf der Straße waren, lief er
    noch einmal ins Schlafzimmer, und zwar, wie es ihm vorkam, nicht auf den Fußspitzen, sondern auf Flügeln. Zwei
    Mädchen waren eifrig damit beschäftigt, dies und das im Schlafzimmer anders zu stellen. Kitty ging auf und ab,
    schnell die Maschen umschlagend, und traf ihre Anordnungen.
    »Ich fahre sofort zum Arzt. Nach Jelisaweta Petrowna ist schon geschickt worden; aber ich will auch noch mit
    hinfahren. Ist sonst noch etwas nötig? Ja, soll ich auch zu Dolly?« Sie sah ihn an, hörte aber offenbar nicht, was
    er sagte.
    »Ja, ja. Geh!« sagte sie hastig mit finsterem Gesicht und machte mit der Hand eine Bewegung, daß er weggehen
    möchte.
    Er war schon ins Wohnzimmer gegangen, als auf einmal ein klägliches, aber sofort wieder verstummendes Stöhnen an
    sein Ohr drang. Er blieb stehen und konnte lange nicht zum Verständnis gelangen.
    ›Ja, das war sie‹, sagte er zu sich, griff sich an den Kopf und lief die Treppe hinunter.
    »Herr, erbarme dich! Vergib uns, hilf uns!« Er

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