Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)
Prolog
Frühjahr 1368
Nach dem Schock der verheerenden Pestepidemie von 1347-53 ist die mittelalterliche Welt im Umbruch begriffen. Das Gesellschaftsgefüge hat sich grundlegend verändert: Ganze Dörfer und Landstriche sind verwaist, Arbeitskräfte werden teurer, genau wie Nahrungsmittel und Handwerksleistungen. Aufgrund des Mangels an geeigneten Männern lassen die Zünfte Mitglieder zu, denen vorher die Aufnahme verweigert wurde, und technische Neuerungen gewinnen ebenso an Wichtigkeit wie der die Welt umspannende Fern- und Großhandel. Einerseits hält eine Carpe-Diem-Mentalität Einzug, die in vielen Bereichen zur Verweltlichung führt; andererseits steigert sich die Gottesfurcht der verängstigten Menschen beinahe ins Ekstatische – eine Tatsache, die dazu führt, dass sich der gotische Kathedralenbau zu neuen Höhen aufschwingt. Weithin sichtbar wachsen Türme in den Himmel, die scheinbar bis in die Wolken reichen. Höher, leichter, spektakulärer – das sind die Ambitionen der Baumeister, welche diese gigantischen Bauwerke verkörpern. Beinahe überweltlich in ihrer Schwerelosigkeit und Eleganz, ziehen sie Menschen an, die zum Teil Hunderte von Meilen reisen, um Zeugen der Entstehung dieser Meisterwerke zu werden.
Das himmlische Jerusalem, wie Propheten und Offenbarung es ausmalen, soll mit lichtdurchfluteten Fenstern und zum Himmel strebenden Gewölben dargestellt werden. Blendend bunte Scheiben zieren die durchbrochenen Wände und stellen Szenen aus der Bibel so formvollendet nach, dass sie beinahe real wirken. Es ist ein Spektakel, das kaum eine Seele unberührt lässt. Die Kirche wird zu einem Ort der Anschauung, die Menschen sollen sehen, um zu glauben, und von Ehrfurcht ergriffen werden – nach dem Horror der Pestepidemie mehr denn je zuvor. Die Bedeutungslosigkeit des Menschen wird hervorgehoben, während ihm gleichzeitig die Freuden des Himmels vor Augen geführt werden und das Paradies kunstfertig inszeniert wird. Es ist eine kunterbunte, erhabene Ersatzwelt, welche die Bodenschwere früherer Kirchen in Vergessenheit geraten lässt. Aber nicht nur Gottesfurcht und Frömmigkeit treiben die Erbauer der Kathedralen an; nein, die Bauten werden auch zu einem Ausdruck bürgerlicher Macht, bürgerlichen Selbstbewusstseins und der wirtschaftlichen Potenz einer Stadt.
So auch in Ulm. Denn mit Ulrich von Ensingen betritt einer der kühnsten Visionäre der Spätgotik die Bühne der Baukunst. Nicht nur das Ulmer Münster wird noch Jahrhunderte später seine Handschrift tragen, sondern auch der Mailänder Dom und das Straßburger Liebfrauenmünster. Aus aller Herren Länder kommen Handwerker, um an diesen Bauwerken mitzuarbeiten, unter Werkmeistern zu dienen, die gegen die oft engstirnige Bauaufsicht rebellieren. Denn wenngleich der Rat und somit die Stadt das Geld gibt, lassen sich diese Künstler ungern ins Handwerk pfuschen – was unweigerlich zu Problemen führt …
Kapitel 1
Im Umland von Straßburg, Ende April 1368
» Himmelherrgott …!« Der Rest des Fluches blieb dem erschrocken zur Seite hechtenden jungen Mann im Halse stecken, da ihm der Aufprall auf dem von unzähligen Hufen festgestampften Boden die Luft aus den Lungen trieb. Ein heftiger Stich durchzuckte seine linke Schulter, als er sich in den mit Unrat, Mist und kleinen Tierkadavern gefüllten Straßengraben abrollte. Einem Reflex folgend spannten sich seine Nackenmuskeln und er riss den Kopf nach oben, um zu verhindern, dass er sich an einem spitzen Stein den Schädel blutig schlug.
»Pass doch auf, du verdammter Idiot!«, brüllte er dem sich rasch entfernenden Fuhrwerk hinterher, dessen eisenbeschlagene Räder dicke Staubwolken aufwirbelten. Wenngleich er die Beleidigung zweifelsohne vernommen hatte, hob der in grobe blaue Wolle gekleidete Lenker des Wagens nicht einmal den Kopf, sondern spuckte ungerührt einen Klumpen Schleim an der Kruppe seines mageren Kleppers vorbei.
»Krötenhirniger Bauer«, grollte der hochgewachsene junge Mann, dessen schwarzes Haar ihm wirr in die Stirn hing. Mühsam rappelte er sich auf die Knie, klopfte die mit hässlichen, braun-grünen Flecken verunzierten Ellenbogen seines Leinenhemdes ab und blickte sich mit unwillig zusammengekniffenen Brauen um. Die Schnürung der hellbraunen Heuke – des mantelähnlichen Umhangs, in den er seine Habseligkeiten gewickelt hatte – hatte sich gelöst, und seine Siebensachen lagen überall im Schmutz verstreut. Das ohnehin ernste Gesicht verdunkelte sich
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