Anna Karenina
Angelegenheiten sich weiter nicht mehr anzunehmen, war
für Ljewin gerade so unmöglich, wie es unmöglich ist, ein Kind hinzuwerfen, das man schon auf den Armen hält. Es
war notwendig, daß er für die Bequemlichkeit der bei ihm auf Besuch befindlichen Schwägerin und ihrer Kinder und
für die Bequemlichkeit seiner eigenen Frau und seines Kindes sorgte, und es war unumgänglich, daß er wenigstens
einen kleinen Teil des Tages in ihrer Gesellschaft zubrachte.
Alle diese Beschäftigungen, im Verein noch mit der Jagd und der neuen Leidenschaft für Bienenzucht, füllten
Ljewins ganzes Leben aus, eben das Leben, das für ihn keinen Wert hatte, sobald er darüber nachdachte.
Aber Ljewin wußte nicht nur mit Sicherheit, was er tun mußte, sondern er wußte auch ganz ebenso, wie er alles das tun mußte und welche Tätigkeit wichtiger war als eine andere.
Er wußte, daß man die Arbeiter zu möglichst niedrigem Lohne mieten mußte; aber sie gegen einen Vorschuß als
Fronarbeiter annehmen, wobei sie dann erheblich weniger Geld erhielten als ihre Arbeit wert war, das durfte man
nicht, obgleich es sehr vorteilhaft war. Bei Futtermangel Stroh an die Bauern nur gegen Bezahlung abgeben, das
durfte man, wenn sie einem auch leid taten; aber die Herberge und die Schenke mußte man beseitigen, obgleich sie
eine Einnahmequelle bildeten. Das Abhauen und Stehlen von Bäumen im Walde mußte aufs strengste bestraft werden;
aber für hineingetriebenes Vieh sollte man keine Geldstrafen nehmen; und obgleich diese Nachsicht die Waldhüter
verdroß und die Furcht der Frevler verminderte, sollte man doch das hineingetriebene Vieh nicht zurückbehalten.
Dem Bauern Peter, der dem Wucherer zehn Prozent monatlich zahlte, mußte man ein Darlehen geben, um ihn aus
solchen Händen zu retten; aber den Bauern, die mit der Zahlung ihrer Abgaben saumselig waren, etwas ablassen oder
Stundung gewähren, das durfte man nicht. Man durfte es dem Verwalter nicht durchgehen lassen, daß eine kleine Wiese
nicht gemäht war und das Gras ungenutzt zugrunde ging; aber man durfte auch nicht achtzig Deßjatinen abmähen, auf
denen junger Wald gepflanzt war. Man durfte nicht großmütig sein gegen einen Arbeiter, mochte er einem auch noch so
leid tun, der mitten in der arbeitsreichsten Zeit in seine Heimat zurückkehrte, weil sein Vater gestorben war,
sondern man mußte ihm für die versäumten wertvollen Arbeitsmonate einen Abzug vom Lohne machen; aber anderseits
durfte man alten, zu nichts mehr tauglichen Gutsknechten eine monatliche Gabe von Lebensmitteln nicht
verweigern.
Ljewin wußte auch, daß, wenn er nach Hause zurückkam, er zuerst zu seiner Frau gehen mußte, die mitunter nicht
wohl war, und daß die Bauern, die schon drei Stunden lang auf ihn gewartet hatten, auch noch ein bißchen länger
warten konnten; und er wußte, daß, obwohl ihm das Einfangen eines Bienenschwarms außerordentlich viel Vergnügen
machte, er auf dieses Vergnügen verzichten, das Einfangen des Schwarmes ohne seine Beteiligung seinem alten
Bienenwärter überlassen und hingehen und mit den Bauern reden mußte, die ihn auf dem Bienenstande aufsuchten.
Ob er dabei gut oder schlecht handelte, das wußte er nicht, auf eine Beweisführung ließ er sich jetzt nicht ein,
ja, er vermied es sogar, mit anderen darüber zu sprechen und bei sich darüber nachzudenken.
Solche Überlegungen machten ihn nur zweifelnd und hinderten ihn, zu erkennen, was er tun mußte und nicht tun
mußte. Wenn er dagegen nicht nachdachte, sondern einfach nur lebte, so fühlte er fortwährend in seiner Seele die
Anwesenheit eines unfehlbaren Richters, der die Entscheidung darüber abgab, welche von zwei möglichen
Handlungsweisen den Vorzug verdiene, und sobald er einmal nicht so handelte, wie er handeln mußte, fühlte er das
sofort.
So lebte er, ohne zu wissen, was er eigentlich sei und wozu er auf der Welt lebe und ohne daß er eine
Möglichkeit gesehen hätte, zu dieser Kenntnis zu gelangen; und diese Unwissenheit quälte ihn dermaßen, daß er
fürchtete, er würde noch eines Tages Selbstmord begehen. Dabei aber bahnte er sich doch mit aller Festigkeit seinen
besonderen, bestimmten Weg im Leben.
11
Der Tag, an dem Sergei Iwanowitsch nach Pokrowskoje gekommen, war für Ljewin ganz besonders reich an Mühe und
quälenden Gedanken.
Es war die Zeit im Jahre, wo mit der allergrößten Eile gearbeitet werden muß, die Zeit, wo beim ganzen Volke
eine so außerordentliche,
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