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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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Kenntnis dessen zu gelangen,
    was er zu erkennen begehrte.
    In der ersten Zeit waren diese Gedanken durch seine Verheiratung und durch die neuen Freuden und Pflichten, die
    er kennenlernte, ganz in den Hintergrund gedrängt worden; aber in der letzten Zeit, als er nach der Entbindung
    seiner Frau ohne rechte Tätigkeit in Moskau lebte, trat ihm diese Frage, die gelöst zu werden verlangte, immer
    häufiger und immer aufdringlicher vor die Seele.
    Die Frage gestaltete sich für ihn folgendermaßen: ›Wenn ich die Antworten, die mir das Christentum auf die
    Fragen meines Lebens gibt, ablehne, welche Antworten erkenne ich dann als richtig an?‹ Aber in dem ganzen Bereich
    seiner Überzeugungen vermochte er schlechterdings keine Antworten zu finden, ja überhaupt nichts, was mit einer
    Antwort auch nur Ähnlichkeit gehabt hätte.
    Es war gerade, wie wenn er in einem Spielwarenladen oder in einer Waffenhandlung hätte Lebensmittel kaufen
    wollen.
    Unwillkürlich und ohne sich dessen selbst bewußt zu sein, achtete er jetzt bei jedem Buche, das er las, bei
    jedem Menschen, mit dem er in ein Gespräch kam, darauf, welche Stellung sie zu diesen Fragen einnähmen und wie sie
    sie zu lösen versuchten.
    Ganz besonders wunderte und verstimmte ihn, daß die meisten seiner Standes- und Altersgenossen, die, früher
    gläubig wie er, ihren Glauben mit denselben neuen Überzeugungen vertauscht hatten wie er, darin gar keinen Nachteil
    fanden, sondern durchaus ruhig und zufrieden waren. Daher quälten ihn außer jener Hauptfrage noch andere Fragen: ob
    diese Leute aufrichtig seien, ob sie sich auch nicht etwa verstellten oder ob sie ein anderes, klareres Verständnis
    als er für die Antworten hätten, die die Wissenschaft auf die ihn beschäftigenden Fragen gebe. Und er studierte
    sorgsam die Ansichten dieser Menschen und die Bücher, in denen diese Antworten enthalten waren.
    Eines, was er erkannt hatte, seit diese Fragen angefangen hatten, ihn zu beschäftigen, war dies: daß er in einem
    Irrtum befangen gewesen war, wenn er, in Erinnerung an seinen jugendlichen Umgangskreis auf der Universität,
    angenommen hatte, die Religion habe sich bereits überlebt und es gebe gar keine Religion mehr. Alle guten Menschen,
    die ihm im Leben nahestanden, waren gläubig: so der alte Fürst, und Lwow, zu dem er eine große Zuneigung gefaßt
    hatte, und Sergei Iwanowitsch, und alle Frauen in der Verwandtschaft; seine eigene Frau war so gläubig, wie er
    selbst es in seiner frühesten Kindheit gewesen war; und neunundneunzig Prozent des russischen Volkes, die ganze
    Volksschicht, deren Leben ihm die größte Achtung einflößte, waren gläubig.
    Und dann ein zweiter Punkt: Beim Durcharbeiten zahlloser Bücher überzeugte sich Ljewin, daß die Leute, die mit
    ihm die gleichen verneinenden Anschauungen hatten, eines festen Untergrundes für diese Ablehnung ermangelten und,
    ohne etwas zu erklären, lediglich die Fragen ablehnten, ohne deren Beantwortung er, wie er fühlte, nicht leben
    konnte, und sich bemühten, ganz andere, ihn nicht beschäftigende Fragen zu lösen, zum Beispiel die Fragen nach der
    Entwicklung der Lebewesen, nach einer mechanischen Erklärung der Seele und anderem.
    Außerdem hatte sich bei der Entbindung seiner Frau mit ihm etwas für ihn Ungewöhnliches begeben. Er, der
    Ungläubige, hatte gebetet und in dem Augen blick, wo er betete, auch wirklich geglaubt. Aber jener Augenblick war
    vorübergegangen, und Ljewin vermochte dieser damaligen Seelenstimmung keine Stelle in seiner geistigen Entwicklung
    zuzuweisen.
    Er konnte nicht zugeben, daß er damals die Wahrheit erkannt hätte und sich jetzt irre; denn sobald er wieder
    angefangen hatte, ruhig darüber nachzudenken, war alles wieder in Trümmer gefallen. Aber auch das konnte er nicht
    zugeben, daß er damals in einem Irrtum befangen gewesen wäre; denn seine damalige Seelenstimmung erschien ihm als
    etwas Hohes, und wenn er sie jetzt als die Wirkung einer Schwäche aufgefaßt hätte, so hätte er das als eine
    Entweihung jenes Augenblicks empfunden. Er befand sich in einer peinlichen Uneinigkeit mit sich selbst und spannte
    alle Kräfte seines Geistes an, um aus ihr herauszukommen.

9
    Diese Gedanken quälten und peinigten ihn bald mehr, bald weniger, ohne ihn jemals ganz zu verlassen. Er las und
    dachte nach; aber je mehr er las und nachdachte, um so ferner fühlte er sich von dem Ziele, dem er zustrebte.
    In der letzten Zeit in Moskau und dann auf dem Lande hatte er, da

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