Anna Karenina
Gute!«
Fußnoten
1 (engl.) verborgenen heimlichen Kummer;
etwas Unangenehmes, was man verbergen muß.
29
»Nun ist alles zu Ende; Gott sei Dank!« das war der erste Gedanke, den Anna Arkadjewna hatte, als sie sich zum
letzten Male von ihrem Bruder verabschiedet hatte, der bis zum dritten Glockenzeichen in der Tür des Abteils
gestanden hatte, um anderen Reisenden den Eingang zu versperren. Sie setzte sich auf ihren Polstersitz neben ihre
Kammerjungfer Annuschka und blickte in dem Halbdunkel des Schlafwagens um sich. »Gott sei Dank, morgen sehe ich
meinen kleinen Sergei und Alexei Alexandrowitsch wieder, und mein Leben wird wieder seinen altgewohnten guten Gang
nehmen.«
Obwohl die aufgeregte Stimmung, in der sie sich den ganzen Tag über befunden hatte, noch nicht von ihr gewichen
war, traf Anna doch sorgsam und mit einem Gefühl des Behagens ihre Vorbereitungen für die Fahrt. Mit ihren kleinen,
geschickten Händen öffnete und verschloß sie die rote Reisetasche, holte ein Kissen heraus, legte es sich auf die
Knie und setzte sich, nachdem sie sich auch die Füße sorgfältig eingewickelt hatte, ruhig hin. Eine kranke Dame
hatte sich bereits schlafen gelegt. Zwei andere Damen suchten mit Anna ein Gespräch anzuknüpfen, und eine beleibte
alte Dame hüllte gleichfalls ihre Füße in eine Decke und äußerte sich abfällig über die Heizung. Anna erwiderte den
Damen ein paar Worte; aber da das Gespräch ihr nicht besonders interessant werden zu wollen schien, so hieß sie
Annuschka die Reiselaterne hervorholen, hängte sie an der Armlehne des Sessels auf und nahm aus ihrer Reisetasche
ein Papiermesser und einen englischen Roman. Anfangs konnte sie nicht lesen. Zuerst störte sie das Lärmen und
Hinundherlaufen auf dem Bahnsteige; dann, als der Zug sich in Bewegung gesetzt hatte, mußte sie unwillkürlich auf
das von ihm verursachte Geräusch horchen; darauf wurde ihre Aufmerksamkeit durch den Schnee abgelenkt, der gegen
das linke Fenster schlug und an der Scheibe haftenblieb, und durch den Anblick des vorbeigehenden, dicht
eingemummten Schaffners, der auf der einen Seite ganz mit Schnee bedeckt war, und durch die Gespräche der anderen
Damen über den entsetzlichen Schneesturm draußen. Aber dann weiter blieb alles unverändert: dasselbe rüttelnde
Stoßen, derselbe Schnee am Fenster, dieselben schnellen Übergänge von Gluthitze zu Kälte und wieder zu Hitze,
dasselbe Vorüberhuschen derselben Personen im Halbdunkel und dieselben Stimmen; und nun begann Anna zu lesen und
das Gelesene zu verstehen. Annuschka schlummerte schon; die rote Reisetasche hielt sie mit ihren breiten Händen auf
den Knien; ihre Hände staken in Handschuhen, von denen der eine zerrissen war. Anna Arkadjewna las, und sie
verstand, was sie las; aber es machte ihr kein Vergnügen, zu lesen, das heißt das Leben anderer Menschen gleichsam
wie in einem Spiegel zu verfolgen. Es verlangte sie gar zu sehr, selbst zu leben. Mochte sie nun lesen, wie die
Heldin des Romans einen Kranken pflegte, so wünschte sie, selbst mit unhörbaren Schritten durch das Zimmer des
Kranken zu gehen; oder las sie, wie ein Parlamentsmitglied eine Rede hielt, so begehrte sie, selbst eine solche
Rede zu halten; oder las sie, wie Lady Mary hoch zu Roß hinter der Meute dahingaloppierte und ihre Schwägerin
neckte und alle Teilnehmer der Jagd durch ihre Kühnheit in Erstaunen versetzte, so regte sich in ihr das Verlangen,
dies auch zu tun. Aber irgend etwas zu tun, dazu war für sie jetzt keine Möglichkeit, und so zwang sie sich denn zu
lesen, während ihre kleinen Hände mit dem glatten Papiermesser spielten.
Der Held des Romans war schon nahe daran, das zu erreichen, was für einen Engländer das höchste Glück ist, den
Baronetstitel und ein Landgut, und Anna hegte den Wunsch, mit ihm zusammen auf dieses Gut zu fahren, als sie
plötzlich die Empfindung hatte, eigentlich müsse er sich schämen und sie müsse es auch tun. Aber weshalb sollte er
sich denn schämen? ›Weshalb brauche ich mich zu schämen?‹ fragte sie sich erstaunt und gekränkt. Sie legte das Buch
auf ihre Knie, ließ sich gegen die Lehne des Sessels zurücksinken und preßte beide Hände fest um das Papiermesser
zusammen. Sie hatte sich über nichts zu schämen. Sie musterte alle ihre Moskauer Erinnerungen: es war nur Gutes und
Angenehmes. Sie dachte an den Ball, sie dachte an Wronski und seine verliebte, demütige Miene; sie rief sich alles,
was zwischen ihnen
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