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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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daher auch einen Teil der Verantwortung; es liegt mir ob, auf die Gefahr, die ich sehe, hinzuweisen, zu
    warnen und sogar von der mir zustehenden Macht Gebrauch zu machen. Es ist meine Pflicht, mit ihr zu sprechen.‹
    Und nun ordnete sich in seinem Kopfe alles klar und übersichtlich, was er seiner Frau jetzt sagen wollte.
    Während er so überlegte, was er ihr sagen werde, überkam ihn ein Bedauern, daß er so nur zum Hausgebrauche, ohne
    damit die öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen und öffentliche Anerkennung zu finden, seine Zeit und seine
    Geisteskräfte aufwenden müsse; aber trotzdem bildeten sich in seinem Kopfe klar und bestimmt, wie zu einem
    amtlichen Vortrage, die Form und der logische Gang der bevorstehenden Rede heraus. ›Folgendes sind die zu
    erwähnenden und zu erörternden Stücke: erstens: Darlegung der hohen Bedeutung der gesellschaftlichen Meinung und
    des gesellschaftlichen Anstandes; zweitens: religiöse Darlegung der Bedeutung der Ehe; drittens: wenn nötig,
    Hinweis auf das möglicherweise für unseren Sohn daraus hervorgehende Unglück; viertens: Hinweis auf ihr eigenes
    Unglück.‹ Und dabei schob Alexei Alexandrowitsch, mit den Handflächen nach unten, die Finger durcheinander, und die
    Finger knackten in den Gelenken.
    Diese Bewegung, eine schlechte Gewohnheit, die Hände zusammenzulegen und mit den Fingern zu knacken, übte auf
    ihn immer eine beruhigende Wirkung aus und verhalf ihm zu jenem seelischen Gleichgewicht, das er gerade jetzt so
    notwendig brauchte. Vor der Haustür ließ sich das Geräusch eines vorfahrenden Geschirrs vernehmen. Alexei
    Alexandrowitsch blieb mitten im Salon stehen.
    Weibliche Schritte kamen die Treppe herauf. Alexei Alexandrowitsch stand da, bereit, seine Rede zu beginnen,
    drückte seine verschränkten Finger gegeneinander und wartete, ob noch einer knacken werde. Ein Gelenk knackte
    noch.
    Schon bei dem Geräusche der leichten Schritte auf der Treppe hatte er die Nähe seiner Frau gefühlt, und wiewohl
    er mit seiner Rede zufrieden war, war ihm doch vor der bevorstehenden Auseinandersetzung bange.

9
    Anna trat ein; sie hielt den Kopf gesenkt und spielte mit den Quasten ihres Baschliks. Ihr Gesicht strahlte von
    einem hellen Glanze; aber dieser Glanz war nicht heiter; er erinnerte an den furchtbaren Schein einer Feuersbrunst
    mitten in dunkler Nacht. Als Anna ihren Mann erblickte, hob sie den Kopf in die Höhe und lächelte, wie aus dem
    Schlafe erwachend, ihm zu.
    »Du noch nicht im Bett? Nun, das ist ein Wunder!« sagte sie, warf den Baschlik ab und ging, ohne
    stehenzubleiben, weiter nach ihrem Ankleidezimmer. »Es ist Zeit, Alexei Alexandrowitsch«, sagte sie, als sie schon
    fast aus der Tür war.
    »Anna, ich habe mit dir zu sprechen.«
    »Mit mir?« erwiderte sie erstaunt, trat von der Tür wieder zurück und sah ihn an. »Was gibt es denn? Worüber?«
    fragte sie und setzte sich hin. »Nun, dann können wir ja miteinander sprechen, wenn es nötig ist. Aber wir täten
    besser, zu schlafen.«
    Anna redete, was ihr gerade in den Sinn kam, und war, während sie sich reden hörte, selbst erstaunt darüber, daß
    sie so gut zu lügen verstand. Wie harmlos und natürlich klangen ihre Worte, und wie glaubhaft war es, daß sie sich
    einfach müde fühlte! Sie fühlte sich in einen undurchdringlichen Panzer der Lüge gehüllt. Sie hatte die Empfindung,
    als ob eine unsichtbare Kraft ihr beistünde und sie aufrechterhielte.
    »Anna, ich muß dich warnen«, sagte er.
    »Warnen?« erwiderte sie. »Wovor?«
    Sie machte ein so harmloses, heiteres Gesicht, daß jemand, der sie nicht so genau kannte wie ihr Mann, nichts
    Unnatürliches an ihr hätte bemerken können, weder am Klange ihrer Worte noch an deren Inhalt. Aber für ihn, der sie
    genau kannte und wußte, daß, wenn er sich einmal auch nur fünf Minuten später hinlegte als gewöhnlich, sie es
    bemerkte und ihn nach dem Grunde fragte, für ihn, der wußte, daß sie alle ihre Freuden, ihre Lust und ihren Kummer
    immer sofort mit ihm teilte, für ihn war jetzt von vielsagender Bedeutung die Wahrnehmung, daß sie seinen Zustand
    nicht bemerken und daß sie über sich selbst kein Wort sagen wollte. Er sah, daß die Tiefen ihrer Seele, die früher
    immer offen vor seinem Blick dagelegen hatten, ihm jetzt verschlossen waren. Und damit nicht genug: an ihrem Ton
    merkte er, daß sie darüber gar nicht einmal verlegen war, sondern ihm gleichsam geradezu sagte: ›Ja, meine Seele
    ist für dich verschlossen,

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