Anna Strong Chronicles 01 - Verführung der Nacht
entgegengesetzten Enden nieder, mit möglichst viel Abstand zwischen uns. Ich kauere mich auf die Sofakante, denn der Drang zu fliehen ist stark. »Erklären Sie mir das.«
»Wo soll ich anfangen?«
Ich drücke die Hände an die Schläfen. »Am Anfang, denke ich. Bei Donaldson.«
»Können Sie sich an irgendetwas erinnern?« Er blickt mir forschend ins Gesicht und gibt sich selbst die Antwort. »Sie erinnern sich. Die Bilder kehren zurück. Die Gefühle. Das ängstigt Sie, weil Ihnen jetzt klar wird, dass Sie eine willige Beteiligte waren, kein Opfer. Das ist in Ordnung. Das ist nur natürlich.«
»Natürlich?«, platzt es aus mir heraus. »An dieser ganzen Sache ist überhaupt nichts Natürliches. Ich habe mich gegen Donaldson gewehrt, aber plötzlich habe ich damit aufgehört. Himmel, ich habe sogar auf ihn reagiert, mitgemacht oder vielmehr mein Körper hat das getan. Ich hatte keine Kontrolle mehr über mich. Ich habe sein Blut geschmeckt und «
Das geistige Bild von Donaldson über mir, die Erinnerung daran, wie sein Blut in meinem Mund schmeckte, wie ich danach geleckt und gegiert habe und gar nicht genug davon bekommen konnte, lässt mich abrupt verstummen. »Das war es, oder?« Ich suche die Bestätigung in Dr. Averys Gesicht und finde sie. »Ich habe sein Blut getrunken, und er meins. O Gott, ich dachte, das wäre ein Ammenmärchen.« Die Absurdität dessen, was ich da sage, lässt mich innehalten. Ich muss lachen, so kurz vor der Hysterie, dass ich sie schon schmecken kann wie Galle, die mir den Hals hochsteigt. »Haben Sie das gehört? Ich erzähle Ihnen gerade, dass ich glaube, ich sei ein Vampir geworden, weil ich Donaldsons Blut getrunken habe. Und Sie, ein qualifizierter Arzt, sitzen hier und hören sich das an, als glaubten Sie es auch.
Wir müssen beide verrücktsein. Vampire gibt es nicht. Es gibt auch keine Geister, Hexen, Feen oder Werwölfe. Ich habe nur einen besonders seltsamen Traum, aber ich werde jetzt aufwachen und wieder ganz normal sein, und dann ist nichts von alledem geschehen und Sie sind auch wieder weg.«
Der zunehmende Anflug von Wahnsinn in meiner Stimme lässt Dr. Avery ein wenig näher an mich heranrücken. Er berührt mich nicht, er versucht es gar nicht, sondern sitzt still neben mir und wartet, bis mir die Puste ausgeht, bevor er sagt; »Das ist schwer zu akzeptieren, ich weiß. Aber Sie sollten sich glücklich schätzen. Donaldson hatte nicht vor, Sie zu verwandeln. Er wollte Sie töten, genau so, wie er diese unglückselige Frau getötet hat, die ihn bei sich aufgenommen hatte. Aber zwei Dinge haben das verhindert. Er wurde von den Leuten aus der Bar gestört, bevor er Sie ganz aussaugen konnte, und Sie haben von seinem Blut getrunken. Sie hätten das, was geschehen ist, unmöglich verhindern können, und Sie können jetzt nichts mehr daran ändern, ganz gleich, was Sie tun. Sie müssen akzeptieren, zu was Sie werden. Ich bin hier, um Ihnen dabei zu helfen.« Ich weiß nicht, ob das wieder einer seiner Tricks ist oder er diese Fähigkeit an Patientenbetten erworben hat, doch der volle Klang und das Timbre seiner Stimme beruhigen mich.
»Sie sind hier, um mir zu helfen? Und wie wollen Sie das anstellen? Sind Sie auch ein Vampir? Gibt es da ein Handbuch, in das ich reinlesen sollte? Einen Pflichtkurs im Blutsaugen, den ich besuchen muss?«
Er lächelt und schüttelt den Kopf. »Nicht so schnell, ich will Ihre Fragen der Reihe nach beantworten. Ja, ich will Ihnen helfen. Ich werde tun, was immer ich kann, um Ihnen den Übergang zu erleichtern. Ja, ich bin auch ein Vampir. Und nein, es gibt weder ein Handbuch noch Kurse. Das ist alles Learning by Doing, sozusagen.«
»Sie können jetzt noch Witze machen? Was zum Teufel sind Sie?«
»Strenggenommen ein Nachtwächter.« »Ein was?«
»Ein Nachtwächter.« Avery stößt sich vom Sofa ab. »Möchten Sie ein Glas Wasser?«
Mir dreht sich der Kopf. »Nein, ich möchte kein Wasser.« Als er mit fragender Miene zur Küche zeigt, nicke ich. »Ja, natürlich. Bedienen Sie sich. Im Kühlschrank steht Wasser.
He, Moment mal. Ich dachte immer, Vampire trinken nur Blut. Sie trinken Wasser?« »Das ist gut«, sagt er und geht zur Küche. »Sie fangen an, die richtigen Fragen zu stellen.« Die richtigen Fragen? An der ganzen Situation ist nichts, aber auch gar nichts richtig.
Ich warte auf Averys Kommentar. Die Stimme meldet sich nicht. Vielleicht respektiert er endlich meinen Wunsch, sich verdammt noch mal aus meinem Kopf
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