Anna Strong Chronicles 01 - Verführung der Nacht
solltest erkennen, dass du deinen Wirt nicht zu verletzen oder zu töten brauchst, um dein Bedürfnis zu befriedigen.
Aber du bist kein Sterblicher. Du hättest mich aufhalten können, das weiß ich. Du bist viel stärker als ich.
Im Augenblick, ja. Aber deine Kräfte wachsen.
Was, wenn du ein normaler Mann gewesen wärst?
Du meinst, wenn Max an meiner Stelle gewesen wäre?
Ja.
Wessen Stimme hat dir gesagt, dass du aufhören sollst?
Meine eigene. Das wird mir jetzt erst klar. Das war meine eigene Stimme.
Er lächelt erneut. Deine Instinkte sind erwacht, und genau damit habe ich gerechnet. Die Wandlung verändert dich nicht in deiner Persönlichkeit. Auch für uns gibt es Gut und Böse. So, wie du immer noch einen Herzschlag hast, hast du auch eine Seele, ein Gewissen. Du bist ein guter Mensch, Anna. Daran wird sich nichts ändern. Nur unsere körperliche Realität hat sich gewandelt.
Was ist dann mit Donaldson geschehen? In seiner Akte gab es keine Hinweise auf Gewalttätigkeit in der Vergangenheit. Wie ist er dann zu einem Killer geworden?
Avery zuckt mit den Schultern . Das Bild, das Donaldson der Welt von sich vermittelt hat, wich stark von der Wirklichkeit ab. Er hatte eine dunkle Seite. Bedauerlicherweise wurde sie durch seine Wandlung entfesselt. Er schiebt den Sessel vom Tisch zurück, und seine Miene verhärtet sich. Sein Blick wird ausdruckslos, sein Geist ist mir wieder einmal verschlossen. Er mustert mich lange, bevor der Funken einer undefinierbaren Emotion aufblitzt und sein Geist sich öffnet. Ich bin froh, dass du über Donaldson nachgedacht hast.
Ich schnaube leise. Wie könnte ich nicht?
Verstehst du, was ich dir über unsere Gabe erklärt habe? Akzeptierst du jetzt die Realität?
Habe ich eine Wahl?
»Wir haben immer eine Wahl«, sagt er laut. »Es ist allein deine Entscheidung, was du mit deinem Leben, wie es jetzt ist, anfangen willst.« Mein Leben, wie es jetzt ist.
Das ist ein so einfacher Satz, doch er trifft mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Vielleicht deshalb, weil ich noch keine Zeit hatte, alles, was geschehen ist, wirklich zu verdauen. Vielleicht liegt es auch daran, dass ein kleiner Teil von mir immer noch glaubt, das alles sei ein Traum, und wenn ich wieder aufwache, würde alles so sein wie vorher. Was der Grund dafür auch sein mag, ich weiß nicht, was ich sagen soll.
Avery nickt, fängt meine widerstreitenden Gedanken und Gefühle auf und findet sich hindurch. Das ist verständlich. Und ich wünschte, du könntest dir den Luxus erlauben, alles in Ruhe zu überdenken und dich damit anzufreunden. Aber du hast nicht die Zeit dafür, Anna. Seine Stimme klingt traurig, sein Blick ist voller Besorgnis. Das macht mir Angst.
»Warum sagst du das?« Avery steht auf und wendet sich ab.
Er geht zu einem Schrank und holt ein frisches Hemd heraus. Als hätte er vergessen, dass ich da bin, zieht er sein Jackett und die Krawatte aus und tauscht das blutbefleckte Hemd gegen das frische. Die Krawatte lässt er auf dem Schreibtisch liegen, zieht aber das Jackett wieder an. Die ganze Zeit über sind seine Gedanken sorgfältig abgeschirmt.
Zum ersten Mal will ich auch gar nicht wissen, was er denkt. Angst schlingt sich um meine Gedanken und windet sich in meiner Magengrube. Nach allem, was ich durchgemacht habe was könnte da so schrecklich sein, dass er zögert, es mir zu sagen? All die erstaunliche Kraft, die ich nach dem Trinken gespürt habe, verpufft, als sich ein Gefühl des Grauens in mir ausbreitet, denn nun wird mir klar: Was auch immer es sein mag, er glaubt nicht, dass ich damit fertig werden kann. Und das macht mich wütend. »Avery.«
Er wendet sich vom Fenster ab, überrascht, meine Stimme zu hören oder vielmehr meinen Tonfall. »Wie kannst du es wagen, mir das anzutun? Ich habe deine albernen Spielchen mitgemacht. Ich habe deinen weisen Ratschlägen gelauscht und akzeptiert, wovon du behauptet hast, ich müsste es akzeptieren. Aber ich lasse mir von dir keine Angst einjagen. Entweder sagst du mir, was dich so beunruhigt, oder ich verlasse auf der Stelle dieses Haus und komme nie wieder her.«
Seine Lippen verziehen sich zu einem säuerlichen Grinsen. »Du glaubst, du wärst so weit, deinen eigenen Weg gehen zu können?«
»Du hast gerade gesagt, ich wäre so weit. Du hast mir gerade gesagt, ich sei noch derselbe Mensch und dass sich nur mein Körper, aber nicht mein Geist verändert hätte. Wenn das stimmt, brauche ich dich nicht, um weiterhin so zu leben, wie
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