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Fremde Blicke

Fremde Blicke

Titel: Fremde Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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RAGNHILD ÖFFNETE VORSICHTIG DIE TÜR und schaute hinaus. Auf der Straße war alles still, und der Wind, der nachts zwischen den Häusern gespielt hatte, hatte sich endlich gelegt. Sie drehte sich um und zog ihren Puppenwagen über die Türschwelle.
    »Wir haben ja noch nicht mal gegessen«, klagte Marthe.
    »Ich muß nach Hause. Wir gehen gleich einkaufen«, antwortete Ragnhild.
    »Soll ich nachher zu dir kommen?«
    »Gute Idee. Wenn wir eingekauft haben.«
    Sie stand schon draußen und fing an, den Puppenwagen den Kiesweg zum Tor hoch zu schieben. Das war schwer, deshalb machte sie kehrt und zog ihn.
    »Mach’s gut, Ragnhild!«
    Die Tür fiel ins Schloß. Ein scharfer Knall von Holz und Metall. Ragnhild hatte Probleme mit der Tür, traute sich aber nicht, sie offenstehen zu lassen. Marthes Hund durfte schließlich nicht weglaufen. Er saß unter dem Gartentisch und ließ sie nicht aus den Augen. Als sie das Tor endlich geschlossen hatte, ging sie in Richtung Garagen den Weg entlang. Sie hätte die Abkürzung zwischen den Häusern nehmen können, aber das war ihr mit dem Wagen zu schwer. Ein Nachbar schloß gerade die Garagentür. Er lächelte sie an und knöpfte sich ein wenig ungeschickt mit einer Hand den Mantel zu. Der Motor seines großen schwarzen Volvos brummte schon.
    »Ach was, Ragnhild, so früh schon unterwegs? Ist Marthe noch nicht aufgestanden?«
    »Ich habe da übernachtet«, erklärte Ragnhild. »Auf dem Boden auf einer Matratze.«
    »Ach so.«
    Er schloß die Garage ab und schaute auf die Uhr, es war 8.06. Gleich darauf fuhr das Auto auf die Straße und war verschwunden.
    Ragnhild schob den Wagen mit beiden Händen. Sie hatte den steilen Hang erreicht und mußte dagegenstemmen, um den Wagen überhaupt halten zu können. Die Puppe, die Elise hieß wie sie selber - denn ihr voller Name war Ragnhild Elise -, glitt ans Fußende des Wagens. Das sah nicht gut aus, deshalb ließ Ragnhild mit einer Hand los, zog die Puppe nach oben, rückte die Decke zurecht und ging weiter. An den Füßen trug sie Gummischuhe, einen roten mit grünem Schnürsenkel und einen grünen mit rotem Schnürsenkel, so gehörte sich das. Außerdem trug sie einen roten Trainingsanzug mit dem Löwen Simba auf der Brust und darüber eine grüne Windjacke. Ihre Haare waren ungewöhnlich hell und dünn, trotzdem hatte sie sie in ein Gummi zwingen können. An dem Gummi bammelten bunte Plastikfrüchte, in der Mitte ragte wie eine kleine vernachlässigte Palme ein Haarbüschel auf. Sie war sechseinhalb, aber schmächtig für ihr Alter. Erst wenn sie den Mund aufmachte, war klar, daß sie bald in die Schule kommen würde.
    Am Hang begegnete ihr niemand, doch als sie sich der Kreuzung näherte, hörte sie das Brummen eines Automotors. Deshalb blieb sie stehen, wich seitwärts aus und wartete, während der fleckige Kastenwagen über eine Rampe schaukelte. Der Wagen fuhr noch langsamer, als der Fahrer das rotgekleidete Kind entdeckte. Ragnhild wollte die Straße überqueren. Auf der anderen Seite war ein Bürgersteig, und ihre Mutter hatte ihr eingeschärft, immer auf dem Bürgersteig zu bleiben. Sie glaubte, daß das Auto jetzt weiterfahren würde, aber es blieb stehen. Der Fahrer kurbelte das Fenster herunter.
    »Du kannst zuerst gehen, ich warte so lange«, rief er.
    Sie zögerte kurz, dann ging sie los. Sie mußte sich wieder um drehen, um den Wagen auf den Bürgersteig zu ziehen. Das Auto glitt ein Stück weiter, dann hielt es wieder an. Nun wurde das Fenster auf der anderen Seite geöffnet. Der hat aber komische Augen, dachte Ragnhild, so groß und kugelrund. Sie saßen weit auseinander und waren blaß wie dünnes Eis. Der Mund war klein, hatte aber fleischige Lippen, die Mundwinkel waren nach unten gezogen wie bei einem Fisch. Er starrte sie an.
    »Willst du mit dem Wagen noch zum Skiferbakken?«
    Sie nickte. »Ich wohne im Granittvei.«
    »Das wird aber anstrengend. Was hast du denn da drin?«
    »Elise«, antwortete sie und hob die Puppe hoch.
    »Schön«, sagte er mit breitem Lächeln. So sah sein Mund weniger fischig aus.
    Dann kratzte er sich den Kopf, seine Haare waren struppig, sie wuchsen in dicken Büscheln wie Ananasblätter. Durch das Kratzen wurden seine Haare noch struppiger.
    »Ich kann dich hochfahren«, sagte er dann. »Hinten ist Platz für den Wagen.«
    Ragnhild zögerte. Sie starrte den langen, steilen Hang hinauf. Der Mann zog die Handbremse und schaute im Wagen nach hinten.
    »Mama wartet auf mich«, sagte

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