Anna Strong Chronicles 05 - Blutrotes Verlangen
gesagt, sie sei schwer verletzt, aber sie hat etwas überlebt, das eine weniger mächtige Hexe vernichtet hätte. Wir bitten dich, überleg dir das gut. Es muss einen anderen Weg geben.«
Ich ziehe die Luft ein. »Es gibt keinen anderen Weg. Ich kann es mir nicht leisten, abzuwarten, bis sie stark genug ist, um zurückzukehren. Ich habe sie zweimal besiegt. Nächstes Mal greift sie vielleicht ohne Vorwarnung an und verletzt Menschen, die ich liebe, oder mich. Dies ist meine einzige Chance, als Erste zuzuschlagen.«
Ariela tritt zu mir und nimmt meine Hand. »Wenn du dir sicher bist, werden wir dich für die Reise vorbereiten.«
Ich nicke und lasse mich von ihr in die Mitte des Raumes führen. Sie nimmt einen Pinsel und zieht mit Sophies Blut einen Kreis um mich herum. Währenddessen taucht Min die Finger in die Schale und tupft Blut auf mein Gesicht – auf Stirn, Wangen und Lippen. Das Blut erweckt die Bestie nicht, es erregt sie nicht einmal.
»Trägst du das Amulett?«, fragt Min.
Ich ziehe den Talisman unter meinem T-Shirt hervor und lasse ihn zwischen meine Brüste fallen. Sie betupft auch das Amulett mit dem Blut. »Das Amulett wird dich zu Burke führen, und danach zurück zu uns.«
»Womit muss ich rechnen?«, frage ich. »Wie wird es auf dieser ›geisterhaften Ebene‹ sein?«
Susan war am Tisch damit beschäftigt, Kerzen zu arrangieren und irgendeine Mischung in einem goldenen Kelch anzurühren. Jetzt blickt sie auf. »Das wissen wir nicht. Keine von uns ist mächtig genug, diese Reise zu wagen.«
Während sie spricht, sieht sie mir tief in die Augen mit einer Art Ehrfurcht, die mich nur noch begieriger auf das macht, was vor mir liegt. Ich will das tun. Min hält immer noch die Schale in der Hand. »Gib mir deine Waffe. Ich weihe sie auch.«
»Waffe?«, wiederhole ich. »Ich habe keine Waffe dabei. Ich bin ein Vampir. Ich dachte, das würde genügen.«
Mins Augen weiten sich. »Ich habe es dir doch gesagt«, entgegnet sie. »Du wirst auf der Geisterebene menschlich sein. Du wirst dort kein Vampir sein. Durch das Portal kannst du nur als Sterbliche gehen.«
Susan runzelt die Stirn. »Hat Williams dir das nicht erklärt?«
Ich presse kurz die Fingerspitzen auf die geschlossenen Augen und sehe Williams mit einem Stahlträger in der Brust auf dem Rücken liegen. »Nein. Aber das spielt keine Rolle. Mit Waffe oder ohne, ich muss das jetzt tun.«
Die drei wechseln besorgte Blicke. Ariela geht zum Tisch und greift nach einem Dolch, mit dem Susan Blätter von einem schlanken Kräuterzweig abgeschnitten hat. Sie berührt die Klinge mit den blutigen Fingern und bringt sie mir. Der Dolch ist etwa fünfundzwanzig Zentimeter lang, und die Klinge verjüngt sich von dem mit Leder umwickelten Heft hin zu einer schmalen Spitze. Die Waffe liegt schwer in meiner Hand. Ich halte sie hoch und sehe zu, wie das Licht auf der Klinge tanzt. Dann nicke ich den Hexen zu. Ariela reicht mir die Scheide. Ich schnüre sie mit Bindfaden um meine Hüfte und stecke den Dolch hinein, um zuletzt noch die Jacke darüber zu schließen.
»Ich bin so weit.«
Die drei treten aus dem Kreis heraus. Susan greift nach dem Kelch und beginnt zu sprechen. Rauch steigt aus dem Kelch auf, erst weiß, dann schwarz. Min und Ariela fassen sich bei den Händen und fallen in den Singsang ein. Es ist eine kurze Wortfolge in einer mir unbekannten Sprache, eine monotone Note, die immer wieder rhythmisch wiederholt wird. Ich sehe und höre fasziniert zu und warte ab. Ich weiß nicht, womit ich rechnen soll – wie wird die Reise sein? Werde ich fliegen oder überhaupt eine Bewegung spüren?
Ein Schauer rieselt durch meinen Körper und prickelt wie ein Stromstoß. Ich fürchte mich nicht, sondern bin aufgeregt. Jede Zelle meines Körpers summt vor freudiger Spannung. Der Rauch wird dunkler und dichter. Wie kann so viel Rauch aus diesem winzigen Kelch kommen?
Die Hexen sind nur noch vage Schatten hinter einem dichten Rauchschleier. Ihre Stimmen verhallen allmählich, als wären sie es, die sich durch Zeit und Raum von mir wegbewegen.
Eine subtile Veränderung. Der Boden bewegt sich unter meinen Füßen. Fernes Donnergrollen. Der Raum ist auf einmal schwarz wie die Nacht. Ich schließe die Augen, nur einen Moment lang.
Als ich sie wieder öffne, hat sich die Welt völlig verändert.
Kapitel 57
Ich befinde mich in einem Raum. Er ist blendend weiß, keine Fenster und Türen. Was jetzt? Ich berühre das Amulett. Es wird warm und beginnt zu
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