Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
dass er keine Ahnung hatte, was die Husains Fatima angetan hatten und ob überhaupt etwas, und dass er das bei der Polizei ursprünglich auch so ausgesagt hatte. Er war woanders gewesen, bei der Arbeit, und erst nach Hause gekommen, als seine Frau schon diese grotesken Verletzungen hatte. Seine Töchter hatten den ganzen Streit mitgekriegt und ihm berichtet, dass niemand irgendjemanden geschlagen hatte. Aber wie standen die beiden Mädchen denn jetzt da? Er wollte nicht, dass sie in dem Bewusstsein aufwuchsen, dass ihre Mutter sich selbst angezündet und obendrein vor ihrem Tod gelogen hatte.
Die Töchter lebten inzwischen wieder in Annawadi. Abdul Shaikh hatte sie, nachdem er Blutergüsse an ihren Armen und Beinen entdeckt hatte, Schwester Paulettes Obhut entzogen. Sie waren selig gewesen, da wegzukommen. »Dauernd mussten wir zu einem Bild von einem weißen Mann ›Danke, Herr Jesus‹ sagen«, erzählte die jüngere Tochter. »Das war so langweilig!« Sie hatten noch kein einziges Mal nach ihrer Mutter gefragt, seit sie wieder zu Hause waren, aber Noori, die ältere, die den Brand durch das kleine Fenster mit angesehen hatte, war sehr verändert. Sie blieb manchmal mitten auf der Straße stehen, als ob sie sich am liebsten von den heranrasenden Autos überfahren lassen würde, und sie hatte eine nervöse Marotte, auf ihrem Kopftuch herumzukauen.
Heute war sie dagegen freudig erregt, weil sie mit dem Zug durch die halbe Stadt fahren durfte, und hatte besonders begeistert die Fernsehkameras vor dem Gericht entdeckt. »Da läuft heute sicher irgendein großer Prozess«, hatte Abdul Shaikh erklärt, als beide Mädchen lächelnd und winkend auf eine Kamera zugelaufen waren. Heena, die kleinere, hatte dasselbe Lächeln wie ihre Mutter, sagten andere Annawadier. Abdul Shaikh fand, das stimmte, obwohl er selbst von Fatimas Lächeln kaum genug abbekommen hatte, um vergleichen zu können.
»Kommen wir jetzt ins Fernsehen?«, fragte Noori, als sie alle drei ein niedriges eisernes Sicherheitstor passierten. Abdul drehte sich um, wollte antworten und knallte mit dem Kopf dagegen. Er war noch immer leicht benommen, als er eine Stunde später in dem hölzernen Zeugenkasten stand.
Er hielt mit der rechten Hand eine zerknautschte Plastiktüte umklammert, darin waren der Totenschein seiner Frau, zwei Fotos von ihr, für die sie sich schön angezogen hatte – einmal ganz in Rosarot, das andere Mal ganz in Blau –, und die amtliche Bescheinigung, dass sie behindert war und Anspruch auf die kostenlosen Metallkrücken hatte. Die Überreste ihres einstigen Daseins rochen schimmelig, es standen auch Dinge darin, die Abdul Shaikh nicht lesen konnte, aber er wollte sie unbedingt in der Hand halten, wenn er seine Zeugenaussage machte, die hoffentlich die Husains ins Gefängnis brachte.
Die Richterin sah ihn während der Vereidigung freundlich an, aber als der Staatsanwalt sich räusperte, bekam Abdul Shaikh weiche Knie. Er musste sich an der Umrandung festhalten, um auf den Beinen zu bleiben. Er war noch nie an so einem Ort gewesen, hatte nie mit so ehrfurchtgebietenden Menschen geredet. Schon bei der banalsten Frage des Staatsanwalts – von dem er doch gedacht hatte, der sei auf seiner Seite – geriet er aus dem Konzept.
»Mit wem leben Sie?«, wollte der Staatsanwalt wissen.
Mit seiner Frau, antwortete Abdul Shaikh, als wäre sie gar nicht tot. Bei der nächsten Frage behauptete er steif und fest, er sei fünfunddreißig. Die Namen seiner Töchter bekam er richtig heraus, aber wo er wohnte, war ihm entfallen. Er war unsicher, wen er beim Antworten angucken sollte. Die Richterin, die ihn von ihrem Hochsitz herab freundlich musterte, oder den Staatsanwalt, der ihm auf Augenhöhe gegenüberstand? Wenn er zum Verteidiger guckte, geriet er noch mehr durcheinander, denn der grinste die ganze Zeit ohne erkennbaren Grund die Richterin an.
Er beschloss, nur noch die Richterin anzusehen. Ihr schilderte er umständlich, wie er Fatima zu Hause gefunden und ins Krankenhaus gebracht hatte.
»War Ihre Frau an dem Abend in der Lage, mit Ihnen zu sprechen?«
Es war die erste Frage von Bedeutung, und Abdul Shaikh musste sie beantworten. Er musste sich zusammenreißen, und er tat es. »Ja, sie konnte sprechen«, sagte er mit Nachdruck. Er wirkte erleichtert, dass er den Satz korrekt herausgebracht hatte.
»Was hat Ihnen Ihre Frau denn auf dem Weg ins Cooper Hospital erzählt?«
»Sie hat erzählt, die haben sie Prostituierte genannt und
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