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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
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Tür einzutreten, um ihre schwelende Freundin zu retten? Sie hatte sich ja kaum warmgeredet, da hatte der Staatsanwalt schon keine Fragen mehr, sondern der Verteidiger der Husains stand auf, um sie ins Kreuzverhör zu nehmen.
    Der Typ sah tatsächlich mal so aus wie die Anwälte im Film. Ungewöhnlich hellwach angesichts einer fragwürdigen Zeugin – der letzten eines quälend langen Prozesses –, sprang er sie regelrecht an.
    Ja, räumte sie ihm gegenüber ein, das Geschäft ihrer Familie war pleitegegangen, als das der Husains aufgeblüht war.
    Ja, sagte sie, sie wohnte in einer Hütte in einiger Entfernung von den Husains, in einer anderen Slumgasse.
    Ja, ihre Hütte war weit weg von der Stelle, wo der Streit stattgefunden hatte. Ja, sie hatte zu der Zeit Gemüse fürs Abendessen geputzt.
    Wie sie dann gesehen haben konnte, was passiert war, wollte der Verteidiger wissen.
    »Ich hab’s aber gesehen«, beharrte sie und sah ihn grimmig an. »Sie war meine Nachbarin!«
    »Das sehe ich nicht so«, sagte der Verteidiger. »Sie haben uns eben erzählt, Sie hätten den Streit mit angesehen, aber das ist nicht wahr. Sie haben gelogen.«
    Die Richterin diktierte ihrer unfähigen Schreiberin eine absurde Zusammenfassung dieser Frage-und-Antwort-Runde: »Ich habe gelogen, und ich habe den Streit gesehen.« Cynthias Augen wurden immer größer.
    Ihr Sohn hatte in einer katholischen Schule Englisch gelernt, und sie hatte ihm bei den Hausaufgaben geholfen und ein paar Brocken aufgeschnappt. Sie begriff, dass die Richterin der Schreiberin diktiert hatte, sie, Cynthia, habe zugegeben, eine Lügnerin zu sein. Sie wollte das korrigiert haben. Sie brauchte Zeit, um nachzudenken und sich wieder zu sammeln. »Warten Sie«, rief sie so laut, dass auch Kehkashan und Karam Husain es, trotz des Straßenlärms, hörten. Aber das hier war ein Eilgericht – eine Nullnummer von Fall vor einem Eilgericht. Kein Mensch hier hatte Zeit zu warten.
    Die Zeugin Cynthia wurde nicht länger gebraucht. Richterin Chauhan rief den nächsten Fall auf. Ein Polizist gab Zeichen in Richtung Saaltür. Sie sollte den Zeugenstand verlassen, nachdem sie so missverstanden worden war? Wie konnte sie diese falsche Variation auf ihre eigene Falschaussage bloß wieder aus diesem Computer da kriegen? Sie bebte vor Wut. Aber auf wen eigentlich? Auf die Richterin? Die Anwälte? Das Justizsystem? Sie beschloss, die Schuld auf Karam und Kehkashan Husain zu schieben, die zusammengesunken hinten auf der Anklagebank saßen.
    »Euch werd ich’s zeigen!«, kreischte sie und verließ den Gerichtssaal mit geballter Faust, ganz großer
filmi
-Stil. Dann fuhren missdeutete Zeugen und verwirrte Angeklagte gemeinsam im selben Zug zurück in das streitlustige Alltagsleben in Annawadi, wo sie weiter darüber brüteten, was da vor Gericht nun eigentlich passiert war. Die Schlussplädoyers waren für zwei Wochen später anberaumt.

15. Eis
    E ines Nachmittags standen Abdul, Mirchi und die Eltern grübelnd, die Hände hinter dem Rücken, vor dem Lagerverschlag mit dem Sammelsurium aus Müll. Bisher hatten sie eine Tour zu den Recyclingfabriken immer aufgeschoben, weil die Preise derzeit so niedrig waren, aber jetzt ging das nicht mehr. Sie hatten den Verschlag verkauft, um den Anwalt bezahlen zu können. Abdul hatte zwar an den Tagen, an denen er sich nicht in Dongri melden musste, geschuftet wie ein Berserker, aber trotzdem nicht viel eingenommen. Die Polizei von Sahar hatte das Geschäft der Husains erfolgreich zerschlagen.
    Während der Prozess lief, hatte sich die gesamte Familie bemüht, auf dem Tugendpfad von Abduls Gefängnislehrer zu wandeln und nichts anzukaufen, was eventuell gestohlen war. Dadurch war das Familieneinkommen um fünfzehn Prozent geschrumpft, aber die Aufmerksamkeit der Polizei ließ trotzdem nicht nach. Inzwischen kamen täglich irgendwelche Polizisten vorbei und verlangten Geld – »die schlabbern uns ab wie Hunde, lutschen uns das letzte Blut raus«, heulte Zehrunisa eines Nachmittags auf. Und da sie keine heiße Ware fanden, für deren Besitz sie die Familie drankriegen konnten, drohten sie, Abdul einzusperren, weil er den Müll auf dem Maidan sortierte. Das sei ordnungswidrige Nutzung öffentlichen Raums! Ein Verbrechen gegen die Lebensqualität der Bürger von Annawadi!
    Die Polizisten machten Andeutungen, eine neue Strafanzeige könnte der Richterin nahelegen, dass die ganze Familie über kriminelle Energie verfügte. Also zahlte Zehrunisa

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