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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
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zu ruinieren. Kehkashan wusste auch später noch genau, wie sich an jenem Nachmittag der optimistische Schock angefühlt hatte, bevor das so hochgelobte Eilgericht die ersten Bruchstellen zeigte.
     
    Im April kleckerte der Prozess gegen die Husains noch immer vor sich hin, mit häppchenweisen Anhörungen und einer gereizten Richterin P. M. Chauhan. Die Gerichtsschreiberin beherrschte nur Marathi gut und kam mit der Übersetzung des Slum-Hindis der Zeugen aus Annawadi in das für die amtliche Mitschrift vorgeschriebene Englisch überhaupt nicht klar. Vor lauter Ungeduld fing die Richterin an, ihr in den Computer zu diktieren, was sie schreiben sollte. Und so wurde aus nuancenreichen Schilderungen der Slumbewohner ein einsilbiges Frage-Antwort-Spiel mit dem Staatsanwalt – wodurch die Verhandlung auch schneller vorankam. Am Ende einer besonders weitschweifigen Vernehmung verkündete die Richterin die Mittagspause, stand auf und seufzte in Richtung Staatsanwalt und Verteidiger: »Oh nein, alles bloß Gezänk um dämlichen persönlichen Kleinkram – diese
Frauen.
Sonst gar nichts, aber so aufgeblasen, dass es am Ende ein Fall wird.« Allmählich war überdeutlich, dass der Ausgang dieses Prozesses nur Annawadier interessierte.
    Für Kehkashan und ihren Vater ging es um zehn Jahre Haft. Doch je mehr Wochen verstrichen, desto weniger begriffen sie, ob das, was in diesem Gerichtssaal gesagt wurde, zu ihren Gunsten oder Ungunsten war. Es war schon April, und wegen der Hitze standen die Fenster offen, so dass sie statt einer Zeugenaussage, von der womöglich ihre Freiheit abhing, nur noch die Kakophonie einer Geschäftsstraße hören konnten. Hupende Autos. Tutende Züge. Röhrende Motoren. Das Warnpiepen von zurücksetzenden LKWs . Es war, als würde der Lärm von draußen vom Deckenventilator angesaugt, von den Metallblättern verwirbelt und wieder nach draußen geschleudert. Ende der Befragung. Nächste Befragung. Jetzt war auch noch irgendwas kaputt an dem Ventilator, er surrte nicht mehr, er schepperte.
    Was sagte der Polizist da gerade zu der Richterin? Was sagte die Richterin zum Staatsanwalt? Der Staatsanwalt hatte sich seine orangeroten Haare auf der Glatze festgeklebt, sie waren bretthart vor lauter Haarspray, aber sobald er heftig nickte, löste sich eine Strähne und stellte sich auf. Noch ein heftiges Nicken und sie stand senkrecht in der Luft wie ein Fingerzeig in Richtung Himmel. Ende der Anhörung. Nächster Termin in einer Woche. Kehkashan setzte sich schon gar nicht mehr gerade hin, sondern blieb einfach schlaff auf dem Stuhl hängen. So saß sie auch an dem Tag bereit, als Fatimas Witwer in den Zeugenstand trat.
     
    Abdul Shaikh war erst vor ein paar Monaten mit seinen beiden Töchter bei den Husains zu Gast gewesen, zum Eidfest, dem heiligsten Feiertag des muslimischen Jahrs. Abdul der Jüngere hatte auf dem Maidan eine Opferziege geschächtet, und Schulter an Schulter mit ihm hatte Abdul der Ältere das Fleisch für das Festmahl von den Knochen geschnitten. So wie sie es jedes Jahr zum Eid gemacht hatten. Die Ziege war gut dies Jahr, das Fest auch. Aber jetzt beim Prozess ging es für Fatimas Witwer um die Ehre, genauso wie für die Husains.
    Der alte Müllsortierer saß in der Saalmitte und hatte akustisch mehr mitbekommen als Karam und Kehkashan. Im Lauf der Anhörungen dämmerte ihm, dass das, was Fatima auf dem Totenbett über Schläge und Würgereien erzählt hatte, immer fadenscheiniger wurde. Alle Zeugen sagten, es habe nur einen Kampf mit heißen Worten gegeben. Abdul Shaikh war auch irritiert über den Widerspruch zwischen Fatimas erster und letzter amtlicher Aussage.
    Er und seine Frau waren nach dem ersten warmen Jahr nicht glücklich gewesen. Sie hatten regelmäßig Krach wegen ihrer Liebhaber, wegen der Brutalität, mit der sie die Kinder schlug, der Brutalität, mit der er sie schlug, wenn er betrunken war. Es lag ihm fern, die Geschichte ihrer Ehe zu beschönigen. Aber er lebte seit Fatimas Tod tagein, tagaus neben den Husains und musste mit anhören, wie Zehrunisa ihren Töchtern vorsang, musste mit anhören, wie Mirchi alle zum Lachen brachte. Fatimas Selbstmord hatte ihm jede, auch die fernste Chance gestohlen, mit seiner Frau ein Auskommen zu finden und seinen geliebten Töchtern ein glückliches Zuhause zu schaffen.
    Er wollte, dass jemand anders als Fatima am Verlust aller Zukunftschancen schuld war. Er wollte, dass die Richterin die Husains verurteilte. Das Problem war nur,

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