Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
über die Stunde Fahrt mit Bus und Bahn in das Sewri-Viertel in der Altstadt von Mumbai. Es war einfach eine dieser Angelegenheiten in seinem Leben, die er ohnehin nicht in der Hand hatte. Er verließ sich einfach darauf, dass Kehkashans Berichte verlässlicher waren als die seines Vaters und sie ihn schon auf dem Laufenden halten würde, wie viel Sorgen er sich tatsächlich machen musste.
Das Gerichtsgebäude in Sewri hatte früher eine Pharmafirma beherbergt. »Sieht hier ja nicht sehr nach Gericht aus«, sagte Kehkashan am ersten Prozesstag besorgt zu ihrem Vater. Keine Teakholztäfelung, überhaupt nichts Imposantes. In den Fluren kampierten scharenweise Angehörige von anderen Angeklagten – aßen, beteten, schliefen oder lehnten einfach an der schmierigen Kachelwand, unter Schildern, die zwölfhundert Rupien Bußgeld für Spucken androhten. Dem Gebäude fehlte ganz offensichtlich ein hauseigenes Müllsucher-Team. Im Verhandlungssaal türmten sich leere Plastikflaschen und Dosen vor dem Podest mit dem Richtertisch.
Dann betrat Richterin Chauhan den Saal. »Die Dame ist sehr streng«, hatte ein Polizist gesagt, »die lässt keinen Angeklagten frei.« Dass die Richterin ungeduldig war, sah Kehkashan sofort. Mit gespitzten dunkelroten Lippen schnauzte sie Karam Husain an, weil er am ersten Prozesstag ohne Anwalt erschienen war. »Das hier ist
bhaari,
ein schwerer Fall! Halten Sie mich hier ja nicht auf, fangen Sie an und ziehen Sie’s schnell durch!«
Ihre Ungeduld hatte strukturelle Gründe. Wie die meisten Schnellrichter führte auch Richterin Chauhan gleichzeitig fünfunddreißig Verfahren und mehr. Es gab keine durchgehenden kompletten Anhörungen zu jedem Fall, wie Kehkashan es aus Fernsehserien kannte. Die Verhandlungen waren in Dutzende kurzer Vernehmungen zerstückelt, mit einer oder zwei Wochen Pause dazwischen. Im Schnitt bekamen Schnellrichter pro Tag Häppchen aus neun verschiedenen Prozessen zu hören, entsprechendes Gedränge herrschte auf der Bank, auf der auch Kehkashan und ihr Vater unter Polizeibewachung sitzen mussten. Neben Männern, die wegen Mordes, bewaffneten Raubs und Stromdiebstahls angeklagt und oft gefesselt waren. Auf der Anklagebank war Karam der Älteste und Kehkashan das einzige weibliche Wesen. Sie saßen mit dem Rücken zur Wand, vor sich eine Ansammlung weißer Plastikstühle für Zeugen und Zuschauer und zwei Reihen Metalltische, an denen jede Menge Gerichtsschreiber, Staatsanwälte und Verteidiger in Akten blätterten. Der Zeugenstand und die Richterin mit den dunkelroten Lippen lagen für Kehkashan in weiter Ferne.
Bei der nächsten Blitzanhörung tauchte plötzlich der Anwalt der Husains auf, und ein Pathologe des Cooper Hospital sagte – falsch – aus, Fatimas Körper sei zu 95 Prozent verbrannt gewesen. Ende der Anhörung. »Und? Was kommt jetzt?«, fragte die Richterin, zog eine neue Akte aus dem Stapel und wandte sich dem nächsten Fall zu.
Eine Woche später sagte ein Polizist der Wache in Sahar aus, zu welchem Ergebnis die Ermittlungen gekommen seien: Die Husains hatten Fatima geschlagen und in den Selbstmord getrieben. »Und? Was kommt jetzt?«, fragte die Richterin.
Dann folgte der Teil des Prozesses, vor dem es Karam und Kehkashan Husain graute. An einem Tag im März und ab da in kurzen, über unzählige Wochen gestreckten Anhörungen folgten die Zeugenaussagen der Nachbarn aus Annawadi, die die Polizei für ihre Vernehmungen und die Staatsanwaltschaft für die Anklagebegründung ausgewählt hatte.
Seltsamerweise waren die meisten dieser »Zeugen« bei dem Streit, der der Verbrennung vorausgegangen war, gar nicht dabei gewesen. Zum Beispiel Fatimas Mann und ihre beiden engsten Freundinnen.
Kehkashan war froh über die Burka, hinter der gut verborgen blieb, dass sie Blut und Wasser schwitzte. Sie hatte sich im Gefängnis mit Gelbsucht angesteckt, und das Fieber war plötzlich rasant gestiegen, was sie auf ihre Angst zurückführte. Sie fand ja selbst, dass ihre Familie sich an jenem entscheidenden Tag lumpig und schändlich benommen hatte. Hätte sie Fatima bei dem Streit doch bloß nicht angeschrien, sie würde ihr das andere Bein auch noch ausrenken. Und hätte ihr Vater Fatima doch nur nicht angedroht, sie zusammenzuschlagen. Aber wegen der hässlichen Worte würden sie wohl nicht ins Gefängnis kommen. Sie würden ins Gefängnis kommen, wenn sich genügend sogenannte Zeugen für Fatimas im Krankenhaus umformulierte Anzeige fanden, laut der sie
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