Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
angeblich gewürgt und geschlagen worden war.
Poornima Paikrao, die Opferbeauftragte der Bundesstaates Maharashtra, hatte erst Fatima zu dieser neuen Aussage verholfen und dann Zehrunisa erzählt, die anderen Zeugenaussagen würden genauso nachteilig für die Husains ausfallen, wenn sie nicht zahlte. Erst an diesem Morgen hatte sie den zweiten Erpressungsversuch gestartet, direkt vor dem Gerichtsgebäude.
Es könne gut sein, dass sich die Zeugen aus Annawadi an neue, verheerende Einzelheiten jenes Abends erinnern, hatte die Opferbeauftragte Karam Husain erklärt. Es könne auch gut sein, dass sie persönlich ihre Aussage bezüglich Fatimas Anzeige auf dem Sterbebett so gestalte, dass das Urteil garantiert auf schuldig lauten würde. Nicht dass sie das wolle. Sie wolle ja helfen. »Aber was soll ich sonst machen?«, fragte sie wie üblich mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Überlegen Sie mal, was dann womöglich passiert. Sie und ihre Kinder gehen in den Knast. Also, was schlagen Sie vor?«
»Ich zahle nicht«, hatte Karam sie angeschnauzt. »Mein Sohn und meine Tochter kennen den Knast inzwischen von innen – was Sie uns da Schreckliches androhen, ist längst passiert. Wir bezahlen einen Anwalt, nicht Sie, um das in Ordnung zu bringen. Der Anwalt wird dafür sorgen, dass die Richterin die Wahrheit sieht. Und wenn die Richterin hier die Wahrheit nicht sehen will«, hatte er lauthals verkündet, »dann geh ich bis zum Supreme Court!«
Jetzt warteten Vater und Tochter im zugemüllten Saal auf die Zeugen aus Annawadi und hofften inständig, dass ihr Vertrauen in die indische Justiz eine reale Basis hatte.
Eine von Fatimas zwei engsten Vertrauten musste als Erste in den hölzernen Zeugenstand, eine bettelarme junge Frau namens Priya. Priya war der wohl traurigste Mensch in Annawadi, Kehkashan kannte sie seit Jahren. Die beiden hatten sich morgens eine Autorikscha geteilt und die Fahrt bis zum Bahnhof Hüfte an Hüfte gesessen, schweißdampfend, jede in ihr eigenes Unglück gehüllt. Priya hatte Blickkontakte vermieden, sich regelrecht in die eigenen Arme verkrochen und immer wieder gesagt: »Ich will da nicht hin, ich will da nicht hin.« Priya hatte seit dem Brand überhaupt fast jeden Blickkontakt in Annawadi vermieden. »Fatima war der einzige Mensch, der mein Herzleid kannte«, hatte sie einmal gesagt. Eine robustere junge Frau hätte vielleicht längst vergessen, wie ihre Freundin um Hilfe geschrien und um sich geschlagen hatte. Priya dagegen stand die eigene Kaputtheit ins Gesicht geschrieben wie eine Schnittwunde – in Annawadi und auch jetzt im Zeugenstand.
Es war nicht die Art Kaputtheit, die junge Frauen zu Märchentanten werden lässt. Priya gab gegenüber dem Staatsanwalt zitternd zu, dass sie während der Streiterei gar nicht auf dem Maidan gewesen war, sondern Fatima erst gesehen hatte, als die schon verbrannt war. Und ja, Fatima hatte immer gern Streit provoziert, räumte sie gegenüber dem Verteidiger ein, bevor sie aus dem Zeugenstand entlassen wurde.
Nach ihr kam ein gutaussehender, wortgewandter Mann namens Dinesh dran, er arbeitete als Gepäckträger auf dem internationalen Teil des Flughafens. Kehkashan hatte nie ein Wort mit dem Mann gewechselt, aber gerüchteweise gehört, er werde etwas sehr Negatives aussagen. Ihr war hundeübel, als sie ihn mit zusammengebissenen Zähnen und zornrotem Kopf in den Zeugenstand treten sah. Er sprach Marathi, deshalb brauchte sie ein paar Minuten, bis sie begriff, dass sich sein Zorn gar nicht gegen ihre Familie richtete, sondern gegen die Polizei von Sahar.
Kurz nach dem Brand hatte ein Polizist dort eine Beschreibung des Streits protokolliert und Dineshs Namen als Zeugen daruntergesetzt. Die Aussage sei eine Fälschung, erklärte Dinesh der Richterin. Er sei zu Hause gewesen, in einer ganz anderen Gasse des Slums, habe von dem Streit überhaupt nichts mitbekommen und wisse gar nicht, wieso er hier als Hauptzeuge der Anklage aufgerufen worden war. Die Husains waren ihm egal, auch ob die im Gefängnis landeten. Aber dass er wegen unkorrekter Polizeiarbeit einen ganzen Tageslohn einbüßte, das war ihm alles andere als egal.
Der verblüffte Staatsanwalt wickelte den Rest der Vernehmung in aller Eile ab, damit war auch diese Anhörung beendet, und Kehkashan und ihrem Vater war fast schwindelig vor Freude bei ihrer Rückfahrt nach Annawadi.
Allen Andeutungen dieser Opferbeauftragten zum Trotz hatten die ersten Zeugen keineswegs gelogen, um die Husains
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