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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
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Schmiergeld um Schmiergeld, während Karam nach einem neuen Lagerraum in einem anderen Bezirk suchte, wo die Polizei von dem laufenden Prozess vielleicht nichts wusste.
    Karam versuchte sich in Optimismus, was den Erlös aus den letzten recycelbaren Sachen betraf. »Hier liegen doch bestimmt fünf Kilo deutsches Silber«, sagte er, »und circa zwei Kilo Kupfer.«
    »Scheißdreck«, blaffte Zehrunisa. »Das ist viel weniger. Wie der Vater, so der Sohn – Mirchi ist schon genauso. Hat keine Lust zu arbeiten, will bloß essen. Ihr beiden wollt immer alles umsonst.«
    Mirchi zuckte zusammen. Er hatte wirklich von früh an keinen Hehl aus seiner Faulheit gemacht. Hatte seinen Freunden gern ein verblichenes Foto von sich und Abdul als Babys gezeigt. »Guckt mal, wie Abdul rumrennt, während ich stillsitze. War schon damals so!« Aber die Familienkatastrophe hatte ihn verändert. Inzwischen konnte er Müll schnell und kompetent sortieren und hatte auch jeden anderen Job angenommen, den er finden konnte.
    Er hatte mit seinem besten Freund Rahul auf dem Bau gearbeitet und zwei Swimmingpools in einem neuen kleinen Edelhotel auf der Airport Road fertiggestellt. Dann hatte er seinen Traumjob erwischt, befristet: im Intercontinental-Hotel Partykulissen aufbauen. Einem Subunternehmer hatte sein Aussehen gefallen, er hatte ihm eine Fliege zum Anklemmen und eine Uniformjacke gegeben. Die Jacke war aus schwarzem Stoff und schimmerte wie Krähenflügel, seine Mutter war ganz still geworden, als sie ihn befühlt hatte. Am Ende der Arbeitswoche hatte der Subunternehmer allerdings die Jacke zurückverlangt und ihm nur ein Fünftel des zugesagten Lohns ausbezahlt. Mirchi war durch die halbe Stadt zur Firma gefahren, um den Rest abzuholen, doch die Security-Leute hatten ihn weggeschickt.
    Sein nächster Zeitjob war bei Skygourmet, wo Essen für Flugzeuge produziert wurde. Dort musste er sich zunächst unter ein Gebläse stellen, das ihm mit Wucht den Stadtdreck vom Körper pustete, und dann in einem grottigen Kühlraum Menüpackungen auf Paletten laden. Es war eine elende Schufterei, in der Kälte, in der er kaum die Glieder richtig bewegen konnte, schwere Container zu schleppen. Er hatte Eiszapfen in der Nase, weil die ständig lief, und wenn er mit der nackten Haut an Metall kam, klebte sie fest. Aber immerhin verdiente er zweihundert Rupien am Tag, bis die Geschäftsleitung die Zeitstellen kürzte.
    Viele vom Flughafen abhängige Firmen reduzierten ihre Belegschaft, solange die Auswirkungen der Terroranschläge und der Rezession anhielten. Ashas Shiv-Sena-Partei organisierte teilweise gewaltsame Proteste gegen den Stellenabbau. Als das Intercontinental Leute entließ, zertrümmerte eine Shiv-Sena-Gang die elegante Hotellobby und forderte mehr Arbeitsplätze für gebürtige Maharashtrianer – Rahul war einer der Nutznießer der Krawalle. Er ergatterte einen sechsmonatigen Werkvertrag für die Reinigung der Aircondition-Schächte. Mirchi freute sich für Rahul und ärgerte sich nur ein kleines bisschen, dass seine Eltern allenfalls zu Müllsuchern einträgliche Beziehungen hatten.
    »Da ist so ’n Typ, der zählt die Autos auf ’m Parkplatz, der hat gesagt, ich hab Talent, das sieht er«, berichtete er eines Abends zu Hause, außer Atem vor lauter Hoffnung, dass ihm sein neuer Kontakt einen festen Job einbringen könnte. Aber in Mumbai gab es Millionen intelligenter, sympathischer, ungelernter junger Männer.
     
    Während die Husains auf das Urteil warteten, verfolgte der Rest der Mumbaier einen Prozess vor einem anderen Schnellgericht. Ajmal Kasab, der einundzwanzigjährige Pakistani, der als einziger der Terroristen den Anschlag überlebt hatte, stand in einem eigens eingerichteten Hochsicherheitssaal im Gefängnis in der Arthur Road vor dem Richter.
    Abduls Vater erklärte, was Kasab getan hatte, war unrecht – der Koran erlaubte keinem Muslim, unschuldige Zivilisten zu töten, von denen einige selbst Muslime waren. Abdul fand trotzdem, dass Kasab es gut hatte. »Auch wenn die den im Knast wahrscheinlich grün und blau schlagen«, sagte er eines Tages, »dieser Kasab weiß wenigstens tief im Herzen, dass er das getan hat, was die ihm vorwerfen.« Das war bestimmt nicht so bedrückend, wie wenn man verprügelt wurde und völlig unschuldig war.
    Aber anscheinend sprang der Volkszorn gegen Kasab nicht auf die anderen Muslime in Mumbai über, stellte Abdul während seiner drei wöchentlichen Zugfahrten nach Dongri erleichtert

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