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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
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die wollten ihr das andere Bein wegnehmen«, fing er an. Dasselbe hatte er vor neun Monaten in seiner ersten Aussage bei der Polizei angegeben, aber vielleicht klang das hier im Gerichtssaal ja gar nicht schrecklich genug – bloß wie normales Annawadi-Gerede. Er machte eine lange Pause, dann fuhr er fort: »Die haben sie geschlagen, hat sie mir erzählt.« Noch eine lange Denkpause, dann sagte er: »Die haben sie am Hals gepackt und geschlagen, hat sie mir erzählt, mit einem großen Stein.«
    So. Die Worte einer Sterbenden, die dem Fall hoffentlich die richtige Wende gaben.
    Der Staatsanwalt schien entzückt, auch die Sahar-Polizisten im Zuhörerraum waren glücklich. Als der Anwalt der Husains mit der Handfeger-Frisur und dem Nadelstreifenanzug zum Kreuzverhör ansetzte, wurde Abdul Shaikh immer sicherer. Nein, seine Frau sei nicht depressiv gewesen, nachdem ihre Tochter Medina im Eimer ertunken war. Nein, seine Frau habe sich nicht schon zweimal zuvor mit Petroleum übergossen. Als er aus dem Zeugenstand schwankte und entkräftet auf den weißen Plastikstuhl sackte, war er überzeugt, seine Kinder und ihren Verlust gerächt zu haben.
    »Und? Was kommt jetzt?«, fragte Richterin Chauhan und rief die letzte Zeugin aus Annawadi auf.
    Cynthia Ali, Fatimas beste Freundin, konnte die Husains nicht leiden, seit das Müllgeschäft ihres Mannes den Bach runtergegangen war. Sie hatte sich nachts nach dem Brand, als Abdul Husain sich in seinem Lagerverschlag versteckt hielt, auf den Maidan gestellt und ihre Nachbarn aufgerufen, gemeinsam zur Polizeiwache zu marschieren und die Verhaftung der gesamten Familie Husain zu verlangen.
    Cynthia hatte von dem ganzen Streit zwischen Fatima und den Husains gar nichts mitbekommen, aber am nächsten Tag in ihrer Zeugenvernehmung bei der Polizei das Gegenteil behauptet. Dann hatte sie, durch die Frau der Puffbesitzers, die Husains wissen lassen, ihre Aussage würde sie in den Knast bringen, es sei denn, sie zahlten ihr zwanzigtausend Rupien vor ihrem Auftritt als Zeugin vor Gericht. Die Husains hatten das abgelehnt und Monate in banger Erwartung auf ihre Rache verbracht.
    »Ich glaub, ich werd bald verrückt«, hatte Zehrunisa gestern zu Abdul gesagt, als sie an der Waage auf die Müllsucher warteten. Sie hatte etwas Wildes im Blick gehabt, etwas, das Abdul zuletzt an ihr gesehen hatte, als sie am Fenster der nichtoffiziellen Zelle der Polizeiwache Sahar gestanden hatte. »Wenn die das Gericht anlügt, was will die denn noch für ’ne Ehre haben?«, hatte Zehrunisa gefragt. »Wenn einer keine Ehre mehr hat, kann der sich in Annawadi noch blicken lassen?«
    Abdul fand ihre Fragen absurd.
    Cynthia hatte sich für den Gerichtstermin extra die Haare gewaschen und ihren besten Sari angelegt, purpurrot, blau-golden gesäumt. Bei den Zähnen war Hopfen und Malz verloren. In den vergangenen Tagen hatte sie sich ihre Zeugenaussage als den entscheidenden Moment der Gerichtsverhandlung ausgemalt, als den imaginären Höhepunkt, so wie bei den Gerichtsszenen in Hindi-Filmen.
    Es hatte weh getan, das Husainsche Einkommen wachsen und gleichzeitig das ihrer Familie wegbrechen zu sehen. Sie fand, dass Zehrunisa bloß Glück gehabt hatte, dass aus ihrem Bauch so eine Sortiermaschine wie Abdul gekommen war, aber Zehrunisa führte sich auf, als ob sie selbst so schlau wäre. Außerdem tratschte Zehrunisa überall herum, dass sie, die christliche Cynthia, früher in einer Exotikbar getanzt hatte – für Cynthia ein längst abgeschlossenes Kapitel ihres Lebens. Sie bezeichnete sich neuerdings als Sozialarbeiterin und versuchte, in das Geschäft mit der Armutsbekämpfung einzusteigen, so wie Asha. Da war ein Haufen staatliches und ausländisches Geld in Umlauf.
    Als Richterin Chauhan sie aufrief, stand sie kerzengerade im Zeugenstand und verkündete selbstbewusst ihren Namen und ihre neue Berufstätigkeit in der Sozialarbeit. Erst als der Staatsanwalt mit seinen Fragen begann, sackte ihr Kopf zur Seite.
    Dieser Staatsanwalt hatte so gar nichts von den Staatsanwälten im Film. Er sah sie auch nicht eindringlich an, trotz ihres sensationellen Saris. Er schien sich bei der ganzen Verhandlung genauso zu langweilen wie die Richterin.
    Cynthias Augenbrauen zogen sich zusammen. Sie hatte das Gefühl, der Staatsanwalt versuchte, sie zu scheuchen. Wollte die Richterin etwa keine Einzelheiten über den Streit hören, den sie angeblich mit angesehen hatte? Auch nicht ihre Geschichte, wie sie geholfen hatte, die

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