Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
unrecht und die Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden, nicht allzu groß war.
»Natürlich ist das Korruption«, erklärte sie ihrer dienstbeflissenen neuen Vereinssekretärin, »aber ist das
meine
Korruption? Kann irgendwer behaupten, dass ich was Unrechtes tue, wenn die ganzen Dokumente von oberen Leuten kommen – wenn obere Leute sagen, dass das alles rechtens ist?«
Die neue Sekretärin nickte Ashas Analyse nur ab, sie war überhaupt etwas zugeknöpft, seit sie die Schecks mit unterschrieben hatte. Wie hätte sie auch argumentieren sollen? Asha war ihre Mutter.
»Jetzt brauchst du keine richtige Stelle mehr zu suchen, wenn du das College beendet hast«, erklärte Asha Manju bezüglich des Schulimperiums, das sie angeblich leiteten. »Du übernimmst meine. Ich muss sowieso dich als Geschäftsführerin angeben, die Schulen müssen alle von ausgebildeten Leuten geleitet werden.«
Manju war nicht gerade glücklich über das Vermächtnis, aber auch durchaus nicht unglücklich über den gebrauchten Computer, der bald ins Haus kam. Meena hatte auf töchterliche Pflichten immer mit glühendem Widerstand reagiert, Manju nie. Asha organisierte auch einen Internetzugang per Modem, Rahul registrierte sich gleich bei Facebook, sein Interesse an sozialen Netzwerken erlahmte allerdings, sobald er seine rote Honda hatte.
Manju liebte ihren Computer, genau wie ihre ehemaligen Slumschulkinder. Sie kreuzten regelmäßig auf, nur um die Pracht zu bestaunen. Sie sagten noch immer »Frau Lehrerin« zu Manju und sahen sie erwartungsvoll an, als wollten sie einfach nicht glauben, dass mit ihrer Ausbildung Schluss war. Aber die Schulen, die Asha und Manju angeblich leiteten, machten Einnahmen aus einer wirklichen Schule überflüssig.
Manju hatte vor kurzem eine Zusammenfassung von
Faust
auswendig gelernt, es ging um eine Art letzte Abrechnung – den Moment, in dem jemand, »der nach dem höchsten Wesen strebte«, entdeckt, dass der Preis für ein mit bösen Mitteln erworbenes gutes Leben fällig wurde. Diese christliche Hölle konnte sie sich zwar nicht so ganz vorstellen, aber dass irgendeine Strafe im Anzug war, das spürte sie.
Eines ruhigen Abends kurz vor ihrer Abschlussprüfung im College sah sie vom Keyboard hoch und erschrak. Vor der Tür standen zwei, nein: fünf Eunuchen! Kein Vergleich mit dem schönen geschmeidigen Eunuchen, der sie damals im rosa Tempel beim Klärteich so verzaubert hatte. Diese Transen hatten behaarte Hände und Schnauzbartstoppeln, und sie standen mit Vorliebe plötzlich bei Leuten vor der Tür, die gerade eine Glückssträhne hatten, und stießen einen Fluch aus, um die zu kappen.
Manju war hell entsetzt, und die Eunuchen bekamen ein schlechtes Gewissen, weil sie so zitterte. Sie waren aus einem ganz anderen Grund da. Sie kannten niemanden, der mehr Macht hatte als Asha, und sie hofften auf ihre Unterstützung, um sich in die Listen für die Wahlen in einer Woche einzutragen. Sie wollten wie viele Annawadier auch an dem belustigenden Schauspiel teilhaben, wenn die Politik mal gezwungen war, nicht in geheimen Hinterzimmern, sondern auf offener Bühne zu agieren.
Diese Parlamentswahl würde das größte demokratische Manöver der Weltgeschichte werden: Fast eine halbe Milliarde Menschen würden Schlange stehen, um ihre Vertreter für das Parlament in Delhi zu wählen, die dann ihrerseits über den Premierminister entschieden. Darüber, wen die Annawadier nach Delhi schicken würden, bestanden kaum Zweifel. Das war Priya Dutt, die freundliche und bescheidene Kandidatin der Kongresspartei. Sie vereinte zwei traditionelle Faibles des indischen Wahlvolks in sich: das für
filmi
-Menschen und das für Erbhöfe. Ihre Eltern waren Bollywood-Superstars gewesen, und ihr Vater hatte schon denselben Parlamentssitz innegehabt.
Eine Woche zuvor war ein LKW der Kongresspartei in Annawadi vorgefahren, und Arbeiter hatten acht verpackte Kanalisationsdeckel aus Beton abgeladen. Sofort lief eine Menschenmenge zusammen, freudig erregt über das Vorwahlgeschenk. Dank Priya Dutts Partei gab es demnächst in den Slumgassen keine offene Kanalisation mehr.
Ein paar Tage später kam der LKW mit den Kongresspartei-Arbeitern wieder. Nicht etwa, um die Deckel auszupacken und anzubringen, sondern um sie wieder abzuholen. Sie wurden in einem der größeren Slums des Wahlbezirks gebraucht, wo mehr Wähler lebten, die man mit derlei Requisiten beeinflussen konnte. Die alteingesessenen Annawadier sahen den
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