Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
eines betonierten Stichkanals, in den der Mithi umgeleitet worden war, als der Flughafen erweitert wurde. Wahrscheinlich dachten die Taxifahrer, dass ihr Müll ins Wasser fiel und einfach abtrieb, aber Sunil war auf die Mauer geklettert und hatte anderthalb Meter tiefer auf der Rückseite einen schmalen Vorsprung entdeckt, eine Art Betonsims. Irgendeine eigenwillige Luftströmung im Siel wirbelte die über die Mauer fliegenden Abfälle auf diesen Sims, und dort blieben sie liegen. Ein machbarer Balanceakt für einen zierlichen Jungen.
Klar, wenn er beim Springen stolperte, landete er im Mithi. Er konnte durchaus schwimmen, das hatte er in Naupada gelernt, einem Slum neben dem Intercontinental Hotel, der bei jedem Monsun unter Wasser stand. Und soweit er wusste, war in Naupada noch nie jemand ertrunken. Aber Naupada war in der ganzen Gegend ein anderer Name für Vergnügen, während der Mithi mit seinen unnatürlichen Strömungen eher ein Synonym für die Todesfallstatistik war. Aber nach ein paar Sprüngen traute Sunil seinen Füßen.
Der Betonsims zog sich über einen Kilometer die Mauer entlang, vom Taxistand bis zu einer Auffahrtrampe, und manchmal gingen die Leute, die dort hinauffuhren, vom Gas und zeigten auf den Jungen, der hoch über dem Wasser herumkrabbelte. Sunil gefiel die Vorstellung, dass sein Treiben auf dem schmalen Sims aus der Entfernung hochdramatisch aussah. In Wahrheit war Müllsuchen hier längst nicht so gefährlich wie auf der Cargo Road oder während der Krawalle, wenn die Schreihälse mit ihrem »Macht die Bhaiyas platt!« durch die Gegend rannten. Und er war bereit, Risiken einzugehen, um ja kein mickriger Zwerg zu bleiben. Mit jedem Meter, den er auf dem Sims balancierte, wurde sein Sack praller und sperriger, und Sunil wusste, er durfte sich nur auf Abfälle direkt vor seiner Nase konzentrieren und weder nach unten noch nach vorn gucken.
Im März hörten die Krawalle auf und hinterließen ihre schlimmsten Spuren in Slums wie Annawadi. Viele Inder aus dem Norden hatten vor lauter Angst zwei Wochen lang nicht gearbeitet. Manche Migranten konnten sich von dem Lohnverlust nicht mehr erholen und erfüllten im Nachhinein den Wunsch der neuen Partei, die sich Maharashtra Navnirman Sena nannte und sie einfach alle weghaben wollte aus Mumbai.
Abduls Eltern vermieteten vier Quadratmeter hinten in der Hütte an die Familie eines Hindus aus dem nordindischen Bihar, der sein Geld mit einer Autorikscha verdiente. Mitte März kam seine verzweifelte Frau eines Nachmittags zu Abduls Mutter. Zehrunisa legte sich den zweijährigen Lallu an die Brust und hörte ihrer Untermieterin zu.
Ihr Mann und sein Bruder mussten pro Tag zweihundert Rupien Miete für das dreirädrige Taxi bezahlen, auch während der Krawalle, obwohl sie da nicht arbeiten konnten. Jetzt hatten sie kein Geld mehr, weder für Benzin noch für die Miete, die sie den Husains noch schuldeten. Die Frau aus Bihar bat Zehrunisa um Nachsicht. »Was soll ich denn machen? Bitte schmeiß uns nicht raus!«
»Na, aber die Krawalle haben uns doch allen weh getan«, sagte Zehrunisa. »Auch Abdul hat seinen Laden dichtmachen müssen. Hab ich Geheimnisse vor dir? Du weißt doch, wie’s um die Gesundheit des Vaters meiner Kinder steht. Wir sind selbst kurz davor, in der Gosse zu landen.« Zehrunisa hatte die Angewohnheit, mit ihrer Armut zu übertreiben, gegenüber Nachbarn und Müllsammlern ebenso wie gegenüber Polizisten, die Schmiergeld kassieren kamen.
»Aber ihr habt ein Geschäft, damit kommt ihr doch durch«, sagte die Frau aus Bihar und nestelte an dem dünnen grünen Paluv, den sie sich über den Kopf gelegt hatte. »Ihr könnt euer Zuhause behalten. Aber wie wir leben, weißt du ja – von der Hand in den Mund. Und du weißt auch, dass mein Mann hart arbeitet, dass meine Kinder gut sind.« Ihr mittlerer Sohn war der beste Schüler der kleinen Schule von Ashas Tochter Manju. Er kannte für jeden Buchstaben des Alphabets ein englisches Wort.
Zehrunisa versuchte, das Gespräch auf Politik zu lenken. »Allah, diese Arschlöcher von der Shiv Sena, oder wie diese neue Partei immer heißt. Die versuchen seit Jahren, uns zu verscheuchen. Wir arbeiten hart. Wer will schon auf deren Wohltätigkeit angewiesen sein? Kommen die vielleicht und packen uns was zu essen auf den Teller? Alles, was die auf die Beine stellen, ist dieser
tamasha
-Folklorefirlefanz –«
Die Frau aus Bihar ballte die Fäuste um die grünen Sarizipfel. Sie wollte nicht
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