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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
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der Name müsste Ausländern gefallen. Irgendwann hatte er einsehen müssen, dass seine Hoffnung unrealistisch war und er in der Masse der Bedürftigen gar nicht weiter auffiel. Doch die Angewohnheit, nie jemanden um etwas zu bitten, war ihm da schon in Fleisch und Blut übergegangen.
    In den ersten Wochen nach der Rückkehr waren seine Fertigkeiten als Müllsucher noch etwas eingerostet, also hatte er seinem Vater im Schlaf die Sandalen ausgezogen und sie an Abdul verkauft, für Essen. Bis sein Vater aufwachen und ihn verdreschen konnte, hatte er fünf Vada Pavs verschlungen. Ein paar Tage später hatte er den väterlichen Kochtopf versetzt. Als er auch die eigenen Sandalen für Reis eingetauscht hatte, war praktisch nichts Verkäufliches mehr da. Die Hungerkrämpfe ließen sich ja noch mit ein paar Zügen aus weggeworfenen Zigarettenkippen dämpfen. Auch Hinlegen half. Aber die Furcht, dass Hunger eine Wachstumsbremse sein könnte, war durch nichts zu vertreiben.
    Sunil hatte die vollen Lippen, die weit auseinanderstehenden Augen und den hochgetürmten Haarwust von seinem Vater geerbt. (Zu dessen hervorstechenden Merkmalen gehörte außerdem, dass er selbst mit dem Kopf im Matsch noch gut frisiert aussah.) Aber Sunil fürchtete, auch die kümmerliche Statur von seinem Vater geerbt zu haben.
    Vor einem Jahr im Waisenhaus hatte er einfach aufgehört zu wachsen. Anfangs hatte er sich noch eingeredet, sein Körper mache einfach mal Pause, Kräfte sammeln für den nächsten, bestimmt heftigen Wachstumsschub. Aber inzwischen war selbst Sunita größer als er.
    Sunil sah ein, dass er als Müllsucher viel besser werden musste, wollte er seinen Motor wieder in Gang bringen. Aber das hieß auch, sich nicht länger mit einer allzu offensichtlichen Tatsache aufzuhalten: Dieser Beruf konnte einen Körper in kürzester Zeit zum Wrack machen. Aus Schürfwunden, die man sich beim Tauchen im Müll zuzog, wurden Pockenblasen, und die entzündeten sich. In aufgerissener Haut setzten sich Maden fest. In Haaren gründeten Läuse Kolonien, Gangräne fraßen sich zentimeterweise die Finger hoch, Waden schwollen zu Baumstämmen an, und Abdul und seine kleinen Brüder hatten Wetten laufen, wer aus der Truppe der Müllsucher als Nächster sterben würde.
    Sunil selbst tippte auf den Gestörten, der immer mit den Hotels redete und überzeugt war, dass das Hyatt ihn umbringen wollte. »Ich glaub, bei dem ist die Garantie abgelaufen«, sagte er zu Abdul. Abdul tippte eher auf einen jungen Tamilen, der nicht mehr nur gelbe, sondern orangerote Augen hatte, und er sollte recht behalten.
     
    Wie die meisten Müllsucher wusste Sunil genau, was die Leute auf dem Flughafen in ihm sahen: einen armseligen, schmuddeligen Jungen ohne Schuhe. Bis zum Winterende hatte er sich einen Schutz gegen die mutmaßliche Verachtung zugelegt, einen Gang mit schlenkernden Gliedmaßen und locker aus der Hüfte, den er aber nur auf der Sahar Airport Road praktizierte. Ein Junge auf dem Weg in die Schule würde so gehen: bloß kein Stress, Kopf in den Wolken. Jetzt, während des ersten Abschnitts der Tagestour, war sein Lumpensack noch leer, er konnte ihn unter den Arm klemmen oder wie ein Superhelden-Cape locker über die Schulter werfen. Oder rasch über den Kopf ziehen, falls Schwester Paulette in ihrem weißen Van mit Fahrer vorbeikam. Schwester Toilette, so nannte er sie inzwischen bei sich. Er stellte sich vor, wie sie sich auf der Airport Road herumkutschieren ließ und nach Kindern Ausschau hielt, die nach mehr Profit rochen als er.
    Frühmorgens hetzten junge Frauen von der Bushaltestelle auf der Airport Road zur Arbeit in den Hotels, mit Handtaschen wie Hausaltäre. Sunil hasste es, auf dem Bürgersteig mit den Riesendingern zu kollidieren. Einmal drosch es ein Kind dabei glatt bis auf die Fahrbahn. Aber jetzt bei Tagesanbruch war die Stadt noch groß genug für alle. Er wurde nicht mit irgendeinem Fußgängerstrom vorwärtsgeschubst, er konnte in Ruhe durch die Gärten stromern, die die neuen privaten Flughafenbetreiber zur Straße hin angelegt hatten. Sunil war ein geübter Kletterer, wenn die Nüsse reif waren, könnte er sich gut an den Kokospalmen bedienen. Er passte auf, dass er nicht auf einen der hinter den Lilien dösenden ausgemergelten Junkies trat.
    Er stellte erstaunt fest, dass man inzwischen von der Airport Road aus gar nichts mehr von Annawadi sah, nur noch die Rauchschwaden vom Kochen. Die neuen Flughafenbetreiber hatten auf der Seite zum Slum

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