Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
über Politik reden, schon gar nicht mit Zehrunisa, mit der ging es dann leicht durch wie ein Zug ohne Bremsen. Sie musterte eine Eidechse, die auf der Wand gerade den Kehlsack blähte. Schließlich unterbrach sie ihre Vermieterin. »Was sagt denn dein Herz? Ich würd ja mit den Kindern ins Dorf zurückgehen, ich würd mich auch nicht beschweren, dass ich bei meinen Leuten dasteh wie ein Idiot. Aber mein Mann und sein Bruder – wo soll’n die bleiben? Etwa auf der Straße?« Sie sah Zehrunisa eindringlich ins Gesicht, bis die Muslima sich abwandte.
Es war genau so, wie die Müllsucher immer sagten: Keine zehn Pferde zogen Abduls Mutter den Geldbeutel aus der Tasche. Als der Bihari-Frau die Tränen in die Augen stiegen, wiegte Zehrunisa den kleinen Lallu und sang ihm etwas vor. Die Müllsucher sagten auch: Die trägt das verwöhnte Riesenbaby wie einen Schild vor sich her. Und so landeten die beiden Bihari-Männer auf der Straße, und die Frau und die Kinder saßen drei Tage lang im Zug zurück nach Hause.
»Sie hat doch selbst gesagt, ich soll auf mein Herz hören, und das hab ich gemacht«, erklärte Zehrunisa ein paar Tage später Abdul. »Mein Herz hat gesagt, wenn wir das Geld von denen sausenlassen, wovon bezahlen wir dann die nächste Rate für das Grundstück in Vasai? Und was ist, wenn dein Vater wieder ins Krankenhaus muss? Wir verdienen endlich mal ein bisschen Geld, aber wenn wir uns in Sicherheit wiegen, werden wir bis in alle Ewigkeit in Annawadi festhängen und Fliegen totschlagen.«
»Nach dem Monsun kommen neue Leute«, erklärte Abdul Sunil und den anderen Müllsuchern, das hatte ihm auch sein Vater gesagt. »Wo sollen die denn sonst hin?« Mumbai war roh zu Zuwanderern, manchmal grausam, aber eben auch besser als irgendein anderer Ort.
Jahrzehntelang war der Flughafen, von dem das Überleben in Annawadi abhing, ein Konglomerat aus Klebeband, ekligen Aborten und Desorganisation gewesen. Jetzt hatte ihn die Regierung im Namen des globalen Wettbewerbs privatisiert. Das neue Betreiberkonsortium unter der Führung des imagebewussten Konzerns GVK hatte den Auftrag, ein schönes, hypereffizientes neues Terminal zu bauen – ein architektonisches Glanzstück, damit die Fluggäste gleich richtig beeindruckt waren von Mumbais steigendem Weltstadtniveau. Das neue Management hatte auch die Erlaubnis erhalten, Annawadi und dreißig weitere aus dem bisher ungenutzten Flughafenboden geschossene Slumsiedlungen zu schleifen. Die Beseitigung der Slums in der Flughafengegend war seit Jahrzehnten geplant, aber immer wieder aufgeschoben worden, jetzt schienen der GVK und die Regierung wild entschlossen, die Sache endlich durchzuziehen.
Ein Motiv dafür, den rund neunzigtausend illegalen Siedlern dort den Boden unter den Füßen wegzuziehen, war die Sicherheit der Flughafenanlagen. Ein weiteres war der Wert des Bodens, denn die Hütten wucherten Flächen zu, die bei vertikaler Bebauung immense Profite abwerfen würden. Das dritte Motiv hieß Nationalstolz, und sein Symbol war ein Flughafen mit dem Markennamen »Indiens neues Tor zur Welt« und dem Pfauenfeder-Logo. Denn zu den Dingen, die sich mit der halsbrecherischen Globalisierung geändert hatten, gehörte auch Indiens Toleranz gegenüber Slums.
Nach den Pleiten US -amerikanischer und britischer Großbanken hatte das rastlose Kapital den Blick gen Osten gewandt. Singapur und Shanghai boomten inzwischen, Mumbai dagegen hatte noch nicht richtig absahnen können. Es gab zwar auch hier junge, billige, schnell anzulernende Arbeitskräfte im Überfluss, aber der Umstand, dass Indiens Finanzmetropole auch als »Slumbai« verrufen war, verursachte Ausfallkosten. Trotz des enormen Wirtschaftswachstums lebte noch immer mehr als die Hälfte der Bürger von Groß-Mumbai in provisorischen Behausungen. Und so beäugten die ausländischen Geschäftsleute beim Landeanflug das Panorama der Slums direkt am Flughafen mal mit Ekel, mal mit Mitleid, aber kaum jemand erkannte in dem, was er da sah, einen Beweis für eine hochfunktionale, gut verwaltete Stadt.
Die Annawadier wussten sehr gut, dass ihre Siedlung allgemein als Schandfleck galt und dass ihr Zuhause genauso provisorisch war wie ihre Arbeit. Trotzdem hingen sie an dem Viertelhektar Land, für sie bestand er aus drei sehr unterschiedlichen Orten. Abdul und Rahul lebten in Tamil Sai Nagar, Annawadis ältestem und gesündestem, an der öffentlichen Toilette verankertem Teil. Sunils Gegend, ein ärmerer und rauherer
Weitere Kostenlose Bücher