Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
schmaler Streifen, war von Dalits aus dem ländlichen Maharashtra besiedelt. (Im indischen Kastensystem, dem ausgeklügeltsten System zur Unterdrückung durch Arbeitsteilung, das je ersonnen wurde, standen die einst als Unberührbare bezeichneten Dalits ganz unten.) Die Dalits von Annawadi hatten ihre paar Slumreihen Gautam Nagar getauft, nach einem achtjährigen Jungen, der während einer der periodischen Zerstörungsaktionen der Flughafenbehörde an Lungenentzündung gestorben war.
Der dritte Ortsteil war eigentlich nur eine Straße voller Schlaglöcher gleich am Eingang nach Annawadi, an der viele Müllsucher lebten. Hier gab es nicht mal Hütten. Müllsucher schliefen auf ihren Säcken, damit andere Müllsucher sie nicht beklauen konnten.
Auf der buckeligen Straße schliefen auch Kleindiebe. Ihr Haupteinsatzgebiet waren die Baustellen rund um den Flughafen, Bauarbeiter achteten nicht immer so genau auf Schrauben, Rohre und Nägel. Vor der Privatisierung hatten viele der Diebe auf dem Flughafen gearbeitet und zum Beispiel Touristen für ein Trinkgeld das Gepäck zum Auto getragen. Aber im Zuge der Sanierung, dank der es um das internationale Terminal herum jetzt fast so glamourös zuging wie bei den Luxushotels, waren auch die zerlumpten Gepäckjungen verbannt worden, genauso wie die Mütter, die mit ihrem Baby auf dem Arm um Geld für Milch bettelten, und die Kinder, die kleine Taschengötter verscherbelten.
Mit Diebstählen verdienten die vormaligen Gepäckträger etwas mehr Geld als die Müllsammler, und sie investierten es zum größten Teil in Reis mit Chilihuhn vom Imbiss einer Chinesin auf der Airport Road. Zum Nachtisch gab es üblicherweise eine Portion Erase-X, die indische Version von Tipp-Ex. Die Leute in den Bürohäusern warfen oft die nicht ganz leeren Fläschchen aus dem Fenster. Und annawadische Straßenjungen wussten den Bodensatz zu schätzen. Mit Spucke verdünnen, auf einen Lappen schütten, inhalieren: eine Dosis Mumm für die Arbeit nach Mitternacht.
Auf die Dauer war Erase-X allerdings ein Problem. Abdul erklärte Sunil, Dauersniffer würden entweder dünn wie Streichhölzer oder bekämen beängstigende dicke Klumpen im Bauch.
Abdul verspürte leise Beschützerinstinkte gegenüber diesem zu klein geratenen Müllsucher. Der Junge konnte sich für seltsame Dinge begeistern, einen Stadtplan zum Beispiel, den er vor kurzem an einer Kantine der Flughafenarbeiter hängen sehen hatte. Er erzählte später in Annawadi davon, als hätte er einen Goldbarren im Gully gefunden, und schien ganz verblüfft, dass die anderen Müllsucher völlig desinteressiert reagierten. Abdul kannte den Hang, sich für Entdeckungen ins Zeug zu legen, die anderen Leuten gleichgültig waren, aus eigener Erfahrung. Er versuchte schon lange nicht mehr zu erklären, warum er sich für bestimmte Dinge begeisterte, und er war sicher, auch Sunil würde beizeiten Erfahrungen mit der eigenen Einsamkeit machen.
Sunil seinerseits war nicht entgangen, dass zugedröhnte Diebe mehr Spaß hatten als der nüchterne, dauerschuftende Abdul. Sobald der Frühling kam, hingen die nämlich alle krakeelend im ersten Vergnügungscenter von Annawadi herum, einem Schuppen, in dem zwei Trumme von Videospielekonsolen standen.
Die Spielhalle hatte ein alter Tamile als Köder ausgelegt. Er konkurrierte seit einiger Zeit mit Abdul um die Ausbeute der Müllsucher und ging dabei fast so clever vor wie Asha. Er lieh den Jungen die eine Rupie, mit der man Bomberman oder Metal Slug 3 spielen konnte. Und er lieh ihnen Seife oder Geld für Essen. Den Dieben lieh er Werkzeug zum Zerschneiden von Stacheldraht oder Lockern von Radkappen. Mit den Schulden im Nacken mussten Müllsucher wie Diebe ihre Beute an ihn verkaufen.
Die Husains betrachteten das als unlauteren Wettbewerb, und zur Strafe brach Mirchi eines Nachts in den Videoschuppen ein und räumte die Münzbehälter in den Konsolen aus. Der Tamile hatte nur gelacht, als er den Übeltäter entdeckte. Verglichen mit dem, was die Diebesbeute abwarf, war die Ausbeute aus dem Videoschuppen Peanuts.
Einer der Straßenjungen, fiel Sunil auf, war anders als die anderen: Kalu, ein schräger Vogel von fünfzehn Jahren und fast so etwas wie ein Freund von Abdul. Kalu riss Witze über den Spielhallenmann und dessen zu kurze Lungis, und er stritt sich mit ihm herum, weil er behauptete, Muslime wie Abdul seien alle Gauner und hätten heimlich Magnetgewichte unter den Waagschalen. Auch Kalu klaute, seine
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