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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
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Spezialität waren die Recyclingtonnen auf dem Flughafen, in denen oft Aluminiumteile steckten. Die Tonnen standen zwar in Zonen, die mit Stacheldraht gesichert waren, aber Kalus Schmerztoleranz war geradezu legendär. Er brachte es in einer Nacht auf drei Kletterrunden über die Zäune, dank Erase-X, dem ortsüblichen Balsam auch für NATO -Drahtwunden. Und manchmal, wenn er Abdul seine Metallbeute verkauft hatte, steckte er Sunil ein paar Rupien für Essen zu.
    Kalu hatte wie Sunil früh seine Mutter verloren und jobbte seit seinem zehnten Lebensjahr. Einmal hatte er Diamanten polieren müssen, in einer schwer bewachten Fabrik in der Nachbarschaft, allein die Vorstellung fanden die anderen Jungen total bekloppt.
    »Und da hast du dir keinen ins Ohr geschoben?«
    »Oder zehn in ’n Arsch?«
    Sie konnten sich das einfach nicht vorstellen, auch nicht, als Kalu schilderte, wie er jeden Abend durch einen Diamantendetektor hatte gehen müssen.
    Sunil mochte an Kalu besonders, dass er jeden Film, den er sah, genial nachspielen konnte, zur Freude der Jungen, die noch nie im Kino gewesen waren. Er imitierte piepsiges Bengali und war plötzlich die Besessene in dem Bollywood-Thriller
Bhool Bhulaiya.
Er imitierte gutturales Chinesisch und war Bruce Lee in
Der Mann mit der Todeskralle.
King Kong dagegen spielte er, trotz vielfacher Nachfrage, nicht mehr. Er war lieber Deepika in
Om Shanti Om.
Dabei tönte er:
»Arre kya item hai!«,
und stolzierte herum. »Nur sie kriegt diese altmodischen Outfits hin!«
    Kalu sah eigentlich nach nichts aus, wenn man jeden Teil seines Gesichts für sich nahm: kleine Augen, eine flache Nase, ein spitzes Kinn, ein dunkler Teint. Der Spitzname, den die anderen Straßenjungen ihm verpasst hatten, war auch nicht als Kompliment gemeint –
kalu
heißt »schwarzer Junge«. Aber Kalu stellte etwas dar, nicht nur wegen seiner Schmerztoleranz, auch wegen seines Talents als Spaßproduzent. Wenn er keine Lust mehr hatte, Filmstars zu imitieren, parodierte er sämtliche Spitzen-Freaks von Annawadi inklusive Einbein mit ihren Lippenstiftlippen, die beim Gehen immer den Hintern rausstreckte und neuerdings mit einem heroinsüchtigen Straßenjungen fickte, wenn ihr Mann auf der Arbeit war. Dass ein Straßenjunge an Sex kam, wenn auch mit einer behinderten Frau wie Einbein, war an sich schon phänomenal.
    Sunil hörte oft heimlich zu, worüber sich Kalu nach Einbruch der Dunkelheit so unterhielt, und erfuhr dabei, dass die Straßenjungen manchmal von Polizisten Tipps bekamen, in welchen Lagerhallen und Baustellen es was zu klauen gab. Natürlich für einen Anteil vom Erlös. Einmal um Mitternacht hörte er mit, wie Kalu Abdul, ausnahmsweise ernst, von einem Diebeszug beim Flughafen erzählte, der in die Hose gegangen war.
    Ein Polizist hatte ihn zu einer Fabrik geschickt – Kalu sagte »die Werkstätten« –, da liege Metall rum und da sei kein Stacheldrahtzaun drum. Um elf Uhr war er hingegangen und hatte auch ein paar Eisenteile gefunden, aber dann war ein Wachmann angerannt gekommen. Kalu hatte alles in ein hohes Unkrautgestrüpp fallen lassen und war nach Hause gelaufen.
    »Wenn ich das Zeug nicht bis morgen früh abgeholt hab, findet’s irgend ’n anderer Junge«, erklärte er Abdul. »Aber ich bin so müde, ich kann da nicht gleich noch mal hin.«
    »Dann sag doch einem von den andern, er soll dich in ein paar Stunden wecken«, schlug Abdul vor.
    Aber die anderen waren inzwischen high und hatten überhaupt einen vagen Zeitsinn.
    »Ich kann dich wecken«, bot Sunil an. Bei den ganzen Ratten in seiner Hütte konnte er sowieso nicht schlafen.
    »Gut«, sagte Kalu. »Komm um drei, wenn du nicht kommst, bin ich erledigt.«
    Kalu sagte das Wort
erledigt
so locker wie das meiste, was er sagte, aber Sunil nahm es todernst. Er legte sich auf den Maidan, einen Meter von Abdul entfernt, und las die Zeit an der Bewegung des Mondes ab. Als es seiner Schätzung nach drei sein musste, ging er zu Kalu, der zusammengerollt auf dem Rücksitz einer Autorikscha schlief. Kalu richtete sich auf, wischte sich den Mund ab und sagte: »Der Junge, der mitkommen sollte, ist zu bedröhnt. Willst du mit?«
    Sunil war verdattert, aber dann fühlte er sich geehrt.
    »Bist du wasserscheu?«, fragte Kalu.
    »Ich kann schwimmen. Ich geh immer in Naupada schwimmen.«
    »Hast du ’n Bettlaken?«
    Sunil hatte tatsächlich eins. Er holte es im Laufschritt, dann ging er hinter Kalu her zur Airport Road. Als sie die Straße

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