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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
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auf die Schliche zu kommen. Die Technik hatte er sich während seiner Aufenthalte im Waisenhaus der Dienerinnen der Heiligen Dreifaltigkeit angeeignet.
    Sunil war kein Waisenkind, und er hatte schnell rausgehabt, wie erfolgreich Schwester Paulette, die Leiterin des dreifaltigen Kinderheims, Ausländerinnen das Geld aus der Tasche zog, wenn sie das Wort » AIDS -Waisen« fallenließ oder die Bemerkung: »Ich war Mutter Teresas rechte Hand.« Er wusste genau, warum er und die anderen Kinder plötzlich, wenn Fotoreporter zu Besuch kamen, Eis und Kuchen essen durften und warum all die Nahrungs- und Kleiderspenden für die Waisen klammheimlich vor dem Eingang zum Heim verscherbelt wurden. Er reagierte nur selten mit Zorn, wenn er herausfand, welche heimlichen Motive hinter dem Verhalten von Menschen steckten. Er hielt seinen Riecher dafür, wie die Welt hinter ihrer Fassade funktionierte, eher für einen guten Schutzschild. Und als er auf die Straße gesetzt wurde, weil Schwester Paulette fand, Jungen über elf seien zu schwer zu bändigen, beschloss er, sich auf das zu konzentrieren, was er in ihrer Obhut dazugelernt hatte. Er konnte Marathi ebenso gut lesen wie seine Muttersprache Hindi und auf Englisch bis hundert zählen. Er wusste, wo Indien auf der Weltkarte liegt. Auch so ungefähr, wie Multiplizieren geht. Und dass Nonnen bei weitem nicht so anders sind als normale Leute, wie allgemein behauptet.
    Ohne ihn mochte seine kleine Schwester Sunita auch nicht im Waisenhaus bleiben, und so liefen sie zusammen zurück nach Annawadi. Dort war ihre Mutter vor langer Zeit an Tuberkulose gestorben, dort lebte ihr Vater noch immer in der stinkigsten Slumgasse, wo sich streunende Schweine den Wanst mit den vergammelten Essensresten aus den Hotels vollschlugen. Die Hütte war nur gemietet, drei mal zwei Meter groß und verdreckt, es gab kein Licht, aber Brennholzstapel zum Kochen. Sunil schämte sich für den Verschlag fast so sehr wie für seinen Vater.
    Der Mann stank wie ein Spirituskocher, wenn er besoffen war. Wenn er das mal nicht war, schuftete er so lange beim Straßenbau, bis er wieder stinken konnte wie ein Spirituskocher, Geld für Essen legte er kaum je beiseite. Sunil war der Einzige, der auf Sunita aufpasste. Einmal, mit fünf oder sechs, hatte er sie eine ganze Woche lang aus den Augen verloren. Seitdem achtete er immer genau darauf, wo sie war.
    Dass Sunita einmal verschwunden war, gehörte zu Sunils wenigen lebhaften Kindheitserinnerungen – und wie fassungslos Rahuls Mutter Asha reagiert hatte. Sie hatte sich sofort mit ihm verbündet und den ganzen Mumbaier Süden nach Sunita abgesucht, dann war sie in die Hütte des Vaters gestürmt und hatte ihm erklärt, wenn er so weitersaufe, seien seine Kinder auch bald tot. Kurz darauf waren Sunil und Sunita an Ashas Händen wie eine richtige Familie die Airport Road entlanggelaufen. Vor dem schwarzen Eingang zum Waisenhaus hatte Asha die beiden dann aber losgelassen und war zurückgegangen.
    In den Jahren danach war Sunil öfter nach Annawadi zurückgekommen – weil er Windpocken oder Gelbsucht hatte oder ihm sonst eine Göttin in den Leib gefahren war und womöglich die Gesundheit von Schwester Paulettes anderen Pfleglingen gefährdete. Insofern hatte er Übung im Umschalten: Er gewöhnte sich schnell wieder an die Jagd nach Müll, an die Ratten, die nachts, wenn er schlief, aus dem Brennholz kamen und ihn zerbissen, und an den Zustand, praktisch ständig Hunger zu haben.
    In den Kindertagen hatten sich Sunil und Sunita zur Abendbrotzeit immer still vor die Nachbarhütten gestellt. Früher oder später würde schon irgendeine mitfühlende Frau mit einem Teller Essen herauskommen. Bei Sunita klappte das ja vielleicht immer noch, aber Sunil war inzwischen jenseits der Altersgrenze, unterhalb derer man sich auf Barmherzigkeit verlassen konnte. Er sah zwar eher wie fast neun aus als wie fast zwölf, was seine Mannesehre schmerzlich traf, doch andererseits vielleicht ganz praktisch war. Aber Sunil tat niemandem mehr leid.
    Kein Mitleid mehr zu erregen störte ihn nur zu Essenszeiten. Er hatte schon im Waisenhaus abgelehnt, die reichen weißen Besucherinnen um Rupien anzubetteln. Er hegte lieber die Vorstellung, genau damit würde er einer dieser Frauen auffallen, und die würde ihn dann für seine vornehme Zurückhaltung belohnen. Er hatte jahrelang darauf gewartet, dass diese eine besondere Frau ihm in die Augen sehen würde, dann würde er sagen, er sei »Sunny«,

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