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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
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hin glänzende Aluminiumzäune hochgezogen, die meisten Autofahrer fuhren daran entlang, bevor sie zum internationalen Teil abbogen. Wer aus der anderen Richtung zum Flughafen wollte, fuhr an einer Betonwand mit sonnengelben Reklameplakaten vorbei. Werbung für Bodenfliesen im Toskana-Stil, der Slogan zog sich über die ganze Breite:
    UNVERWÜSTLICH SCHÖN UNVERWÜSTLICH SCHÖN UNVERWÜSTLICH SCHÖN UNVERWÜSTLICH SCHÖN
    Sunil schlenderte wie üblich oben auf der schön unverwüstlich schönen Mauer entlang, um Ausschau nach Müll zu halten, aber die Airport Road hier war gemein sauber.
    Der einträglichste und deshalb umkämpfteste Flughafenbereich war die Straße, an der die Luftfracht ein- und ausgeladen wurde. Hier auf der Cargo Road gab es jede Menge LKWs, Laderampen, überquellende Müllcontainer und kleine Imbissstände, hier tummelten sich aber auch jede Woche neue Müllsucher. Manchmal ließen erwachsene Männer ihre Messer aufblitzen, um Sunil von den verheißungsvollen Containern fernzuhalten, meistens warteten sie einfach ab, bis er genug eingesammelt hatte, gaben ihm einen Arschtritt und klauten ihm den vollen Sack. Die Matang-Frauen warfen mit Steinen nach ihm. Müllsammeln war in der Matang-Kaste Tradition, die Frauen trugen auch bei der Arbeit ihre roten und grünen Saris und ihren Mitgiftschmuck in der Nase und waren immer nett zu ihm, wenn alle gemeinsam mit ihren Säcken vor einer der Waagen in Annawadi Schlange standen. Aber neuerdings vergriffen sich auch Angehörige anderer Kasten an den angestammten Erwerbsquellen der Matangs, denn feste Arbeit war kaum zu kriegen, Müll dagegen gab es immer. Und so war einer wie Sunil, der aus einer Zimmermannskaste in Uttar Pradesh stammte, für die Matangs auf ihrer Cargo Road schlicht ein Eindringling.
    Noch schlimmer für beide, die Matangs und Sunil, war die zunehmende Konkurrenz durch Profis. Inzwischen hielt eine ganze Armee uniformierter Müllwerker das Gelände um das internationale Terminal herum sauber. Große Recycling-Konzerne holten die Abfälle aus den Luxushotels zumeist direkt ab – »ein Vermögen, so weit kann man gar nicht rechnen«, befand Abdul im Flüsterton. Nagelneue städtische Müllwagen rollten durch die Straßen, weil eine Bürgerinitiative mit Bollywood-Heldinnen als Galionsfiguren gegen Mumbais Ruf als Drecknest mobil gemacht hatte. Und über Müllbehältern prangten schicke orangerote Schilder mit der Aufforderung: MACH SAUBER ! Mancher freischaffende Müllsucher befürchtete, bald überhaupt keine Arbeit mehr zu finden.
    Am Ende solcher Tage voller Gewalt verkaufte Sunil alles, was ihm nicht geklaut worden war, an Abdul. Auf mehr als fünfzehn Rupien pro Tag, einen Viertel-Euro, kam er selten, während die Matangs im Durchschnitt vierzig Rupien verdienten. Er ahnte, wenn er nicht bald lohnende Ecken fand, auf die noch niemand gekommen war, würde er nie mehr wachsen. Daher fing er an, weniger auf die anderen Müllsucher zu achten und mehr auf Leute, die etwas wegwarfen. Nach dem Prinzip der Krähen von Annawadi: kreisen, ausspähen und dann zuschlagen.
    Reiche Fluggäste warfen garantiert sagenhafte Sachen weg, aber am internationalen Terminal verscheuchte das Sicherheitspersonal jeden Müllsucher, der auch nur in die Nähe kam, sogar die jüngsten, die nur mal hören wollten, ob die Tafel mit den Landungen wirklich
tschkk-e-tschkk-e-rrrrr
machte, wie die Alteingesessenen immer behaupteten. Auch die Bauarbeiter am neuen Terminal hinterließen bestimmt irgendwelchen Krempel, aber die Baustelle war mit einem blau-weißen Aluminiumzaun umstellt, und der bot keinen Halt zum Klettern. Sogar die Beamten der Polizeiwache von Sahar, die auf dem Flughafengelände lag, mussten doch eine Art
trash flow
produzieren, aber vor der Polizei hatten die meisten Annawadier Angst, auch Sunil. Also nahm er die schwarz-gelben Taxis an einem Halteplatz neben der Wache ins Visier.
    Es gab da einen Imbissstand für Fahrer, die auf die frisch gelandeten Passagiere warteten. Die meisten schlürften hastig ihre Plastikbecher Tee leer, aßen ihre Samosas und ließen ihren Dreck fallen, wo sie gerade standen. Ein erstklassiges Terrain und längst Hoheitsgebiet anderer Müllsucher, aber Sunil hatte beobachtet, dass manche Taxifahrer mit ihren Abfällen anders verfuhren.
    Sie warfen ihre leeren Becher und Flaschen hinter dem Imbissstand über eine flache Steinmauer. Und hinter der lag in gut zwanzig Metern Tiefe das Flussbett des Mithi – beziehungsweise

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