Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
erst mal das Parkhaus in Betrieb und mit Autos vollgestellt wäre, in einem Monat. Aber der andere Raum würde bleiben, das war der, in den er sich begab, wenn er sich über das Geländer beugte.
Er sah gern zu, wie die Air-India-Maschinen mit dem roten Heck abhoben. Er mochte den zwiebelförmigen städtischen Wasserturm. Er mochte die Baustelle für das gewaltige neue Terminal. Der Schornstein des Parsiwada-Krematoriums, wo Kalus Leichnam eingeäschert worden war, interessierte ihn nicht weiter. Lieber Ausschau halten nach dem leuchtenden Hyatt-Schild und zu erkennen versuchen, welcher der dunklen Flecken darunter Annawadi war. Am schönsten aber war es, den reichen Leuten zuzusehen, wie sie beim Terminal aus- und eingingen.
Andere Jungen, die auf das Dach kamen, beobachteten das Gewimmel gern, weil die Leute so winzig aussahen. Sunil dagegen fühlte sich den Leuten nahe, wenn er sie von oben betrachtete. Hier hatte er die Freiheit, sie so zu beobachten, wie er es am Boden nie gekonnt hätte. Wenn er sie unten anstarrte, würden sie merken, dass er starrte.
Er war von Monat zu Monat weniger sicher, wo eigentlich sein Platz in dem ganzen menschlichen Treiben der Stadt da unten war. Er hatte mal geglaubt, er sei schlau, aus ihm könne noch was werden – nicht so was Großes wie die Leute, die beim Flughafen ein- und ausgingen, eher so was Mittleres. Solange er hier oben auf dem Dach war, wenn auch nur auf der Suche nach was zum Stehlen, war er wenigstens eine Zeitlang ein anderer als der, der in Annawadi aus ihm geworden war.
Genug Zeit vertrödelt: Er musste nach Hause mit seinem deutschen Silber. Er stieg die Treppe wieder hinunter, zog, bevor er das Gebäude verließ, den Reißverschluss seiner Hose auf und schob sich die Alu-Bleche in die Unterhose. Deutsches Silber direkt auf der Haut fühlte sich zwar nicht gut an, aber über der Unterhose verrutschte es ständig.
Etwas steifbeinig humpelte er an den Security-Checkpoints und der Polizeiwache vorbei. Bald war er wieder in Annawadi, rollte sich auf einem LKW zusammen und schlief. Am nächsten Nachmittag lieh er sich Werkzeug vom Spielbudenmann und klaute Wegfahrsperren, die die Parkplatzpolizei des Flughafens Autorikschas um die Reifen klemmte.
Als er nach Einbruch der Dunkelheit in die Spielbude zurückkam, redeten alle über eine Frau, die gerade vergeblich versucht hatte, sich zu erhängen. Ihr Mann war verschuldet und hatte die gemeinsame Hütte verkauft, und sie wollte nicht auf dem Asphalt leben.
Zu viele Annawadierinnen wollten lieber tot sein, fand Sunil. Meena machte ihn besonders traurig, sie war immer nett zu ihm gewesen. Und alles bloß wegen einem Ei, sagten die Leute.
Abdul nannte es verwegen, was Meena getan hatte. Auch Kalu hatten die Leute immer als verwegen bezeichnet. Und neuerdings sagte der Tamile mit der Spielbude, er, Sunil, sei der verwegenste Junge von Annawadi. »Der Dieb Nummer eins!« Sunil durchschaute das Motiv hinter dem Spruch. Der Tamile wollte Sunils Selbstvertrauen päppeln, damit er endlich den Raubzug bei Taj Catering machte und ihm die Ware verkaufte. Aber das Selbstvertrauen hatte Sunil auch an diesem Abend nicht.
Draußen auf dem Weg torkelte gerade sein Vater vorbei, und Abdul redete erregt auf einen anderen Jungen ein, der aber nicht zuhörte. Beim Reden schlenkerte er die ganze Zeit den Kopf nach vorn und nach hinten, genau wie ein Wasserbüffel hinter ihm. Sunil ging lachend zu ihm. Kalu hätte das tolpatschige Gehampel sofort nachgeäfft. Aber wahrscheinlich verscheuchte Abdul bloß gerade dieselben Killer-Moskitos wie der Büffel.
»Fragst du dich nicht auch manchmal, wenn du jemanden anguckst, wenn du jemandem zuhörst, ob das eigentlich ein Leben ist, was der hat?«, fragte Abdul den Jungen, der nicht zuhörte. Anscheinend hatte er wieder mal einen dieser Anfälle, die ihn ab und an überkamen, seit er in Dongri eingesessen hatte.
»Zum Beispiel die Frau da, die sich einfach aufhängt, oder der Mann, der sie bestimmt vorher verprügelt hat? Ich möchte mal wissen, was für ein Leben das sein soll«, fuhr er fort. »Ich krieg die Krise, wenn ich so was sehe. Aber ein Leben ist es. Auch einer, der lebt wie ’n Hund, hat ’ne Art Leben. Ist mir eingefallen, als meine Mutter mich mal verprügelt hat. Ich hab zu ihr gesagt: ›Wenn das, was mir hier grad passiert, dass du mich schlägst, mein Leben lang so weitergehen würde, dann wär das ’n mieses Leben, aber es wär auch Leben.‹ Meine Mutter war
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