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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
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Container zu plündern. Sunil durchsuchte lieber das Taj-Gelände nach einem bequemeren Zugang und entdeckte ein kleines Loch unter Gestrüpp ganz unten in einer Mauer. Dass das Loch außerdem am Ende eines unbeleuchteten Schotterwegs lag, machte eine diebische Exkursion geradezu zwingend. Trotzdem schob er sie immer wieder auf.
    Sein klauender Kollege Taufeeq schimpfte, wenn sie noch lange zögerten, würden andere Jungen das Loch auch finden. Aber dieses Taj Catering erinnerte Sunil an Kalu und an den Tod, genauso wie diese Soldaten mit den blauen Baretten, die neuerdings hinter Bunkermauern hockten, und wie die Polizei von Sahar, die in den Monaten seit dem Terrorangriff noch bösartiger geworden zu sein schien. Neulich hatte ihn ein Wachmann auf dem Gelände von Indian Oil beim Herumstöbern nach Metall erwischt und einem angetrunkenen Constable namens Sawant übergeben. Der hatte auf der Wache auf Sunils Rücken herumgetrampelt und ihn so brutal geschlagen, dass ein anderer Polizist sich bei ihm entschuldigt und ihm eine Decke zum Umhängen gebracht hatte.
    Angesichts solcher Risiken wollte Sunil lieber die Taj-Wächter noch ein paar Nächte lang durch das Loch beobachten und das Risiko, geschnappt zu werden, genauer abschätzen. Bis dahin beschaffte er sich ein bisschen Essensgeld in dem fast fertigen vierstöckigen Parkhaus am internationalen Terminal.
    Den besten Weg auf das Gelände kannte er inzwischen: vorbei an hellroten und gelben Barrikadenreihen, vorbei an Bulldozern und einem Generator, der über Nacht zugehängt war, vorbei an einem Checkpoint, an dem mit Taschenlampen bewaffnete Wachleute Kofferräume öffnen ließen, vorbei an einem irre hohen Kieshaufen, vorbei an einem Bittermandelbaum, dessen Blätter schon rot waren, also waren die Mandeln nicht mehr sauer, sondern süß, und schließlich vorbei an zwei Security-Bunkern.
    Im Januar hatte er sich einmal um Mitternacht die dunkle Garage angesehen und gegrübelt, was ihm zwischen den Füßen herumhuschte. Ratten oder Bandikuts vielleicht, aber hier im Parkhaus hatte er noch nie Tiere gesehen. Wächter schon oft, aber die konnte er in dieser Nacht nirgends ausmachen. Vorsichtig schlich er zu einem Treppenschacht an einer Außenwand aus Stahllamellen. Durch die Lamellen gleißte etwas von der blauweißen Lichtflut des internationalen Terminals, wo sich noch immer Flugpassagiere und Angehörige zum Abschied umarmten. Nah am Licht war es zwar riskanter, von einem Wächter gesehen zu werden, aber man sah auch besser.
    Sunil suchte nach etwas, dem Annawadier den Namen »deutsches Silber« verpasst hatten – Aluminium oder Zink oder Nickel. Neuerdings wurde er mit Hochachtung ausgesprochen. Zwar war auch der Preis für deutsches Silber in letzter Zeit gefallen, von hundert auf sechzig Rupien pro Kilo, aber alle anderen Preise waren noch tiefer gestürzt.
    Sunil arbeitete sich den Treppenschacht hinauf und spähte auf jedem Absatz vorsichtig durch ein kleines Loch im Boden. Wahrscheinlich liefen da bald Wasserrohre durch, dachte er, aber im Augenblick konnte er sich dank der Löcher vergewissern, dass kein Wächter hinter ihm hergeschlichen kam. Vor den Nepalis hatte er die meiste Angst, die waren so eine Art Chinesen, wie Bruce Lee.
    Auf dem dritten Absatz lagen zwei lange Alu-Bleche in einer Ecke. Er flitzte hin, schnappte sie sich und wunderte sich, dass die noch kein anderer Dieb gefunden hatte. Vielleicht gehörten sie zu einem Fensterrahmen, dachte er, obwohl das Parkhaus gar keine Fenster hatte. Wozu die Sachen, die er stahl, gedacht waren, war ihm eigentlich egal, aber er wunderte sich trotzdem.
    Er nahm die Blechstreifen mit aufs Dach, da oben gab es deutsches Silber, das einzige, das er bisher gefunden hatte, in einem roten Spind mit der Aufschrift Feuerwehrschläuche – ein wackeliger Feuerlöscherhalter, ziemlich wertlos. Auf dem Dach stieß man allerdings auch am ehesten auf Wachleute, sie kamen zum Rauchen hinauf. Trotzdem versuchte Sunil jedes Mal, die vier Stockwerke hoch bis auf das Dach zu gelangen. Es war das höchste Dach, auf dem er je gestanden hatte, und das Beglückendste daran war der Ausblick in den weiten Raum, eine Seltenheit in der Stadt.
    Eigentlich waren es zwei verschiedene Räume auf dem Dach. Der eine war der Raum, in dem er sich genau in die Mitte stellen und um die eigene Achse drehen konnte und genau wusste, selbst mit dreißigmal so langen Armen würde er nirgends anstoßen. Dieser Raum würde verschwinden, wenn

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