Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
total schockiert. Sie hat gesagt: ›Mach dich nicht verrückt mit Gegrübel über irgendwelche Horrorleben.‹«
Sunil fand, dass auch er ein Leben hatte. Ein mieses Leben, gewiss – die Art, die enden konnte wie Kalus Leben und dann vergessen wurde, weil es für Leute, die in der Oberstadt lebten, keine Bedeutung hatte. Aber da oben auf dem Dach, als er sich übers Geländer gebeugt und überlegt hatte, was wohl wäre, wenn er sich zu weit hinüberbeugen würde, war ihm klargeworden, dass ein Jungsleben zumindest für den Jungen selbst etwas bedeutete.
Im Februar verlor Taufeeq die Geduld, schlug Sunil zusammen und riss die Operation Taj-Catering-Raub an sich. Sunil war erleichtert, zu einem seiner vier Fußsoldaten degradiert worden zu sein. Drei Wochen lang schlüpften die Jungen jeweils in einer Nacht durch das Loch in der Steinmauer und schafften zweiundzwanzig kleine Eisenstücke heraus. Einmal kamen Security-Leute angerannt, doch die Jungen bombardierten sie mit Steinen. Sunil hatte jetzt genug zu essen und sogar noch zehn Rupien übrig für einen versilberten Ohrring in Totenkopfform, den er bei einem Händler vor dem Andheri-Bahnhof gesehen hatte. Er wollte schon immer etwas Glänzendes besitzen.
Im Parkhaus und in den Industriedepots am anderen Flussufer gab es noch mehr deutsches Silber. Eine aus einem Security-Häuschen geklaute Leiter brachte tausend Rupien, geteilt durch fünf. So vergingen Wochen, in denen Sunil fast nie mehr Hunger hatte und in denen ein Wunsch in Erfüllung ging, der viel größer war als ein silbriger Ohrring.
Anfangs traute er seinen Augen nicht – das da auf der Hüttenwand war doch bestimmt bloß ein Schatten wegen des Winkels, in dem das Licht fiel. Aber als er sich mit Sunita Rücken an Rücken stellte, stimmte es. Er war größer geworden. Als Dieb hatte Sunil Sharma endlich wieder angefangen zu wachsen.
14. Der Prozess
I nsgeheim war Abduls Vater überzeugt, dass in Indien nur Leute vor Gericht kamen, die zu arm waren, um Polizisten zu bestechen, trotzdem hatte er seine Kinder zu Respekt gegenüber der indischen Justiz erzogen. Gerichte schienen Karam Husain von allen staatlichen Institutionen am ehesten gewillt zu sein, sich für die Rechte von Muslimen und anderen Minderheiten einzusetzen. Als im Februar sein eigener Prozess näher rückte, fing er an, in Urdu-Zeitungen alle Prozessberichte aus ganz Indien zu lesen, so wie manche anderen Annawadier sämtliche Fernseh-Soaps sahen. Er war zwar nicht mit jedem Urteil einverstanden und bekam durchaus mit, dass auch manche Richter korrupt waren, aber sein Glaube an die Justiz blieb relativ unerschüttert.
»Bei der Polizei heißt es immer, wir sollen den Mund halten«, erklärte er seinem Sohn, dem er das nicht sagen musste, weil er sich nur zu gut erinnerte. »Bei Gericht kann das, was wir sagen, Gehör finden.« Karams Hoffnung wuchs, als er erfuhr, dass sein Fall vor einem der neuen Gerichte für Eilverfahren verhandelt werden sollte.
In normalen Gerichten vergingen oft fünf oder acht, manchmal sogar elf Jahre zwischen Anklageerhebung und Prozesseröffnung. Menschen ohne feste Anstellung – bei weitem die Mehrheit in Indien – kostete jeder Termin, zu dem sie erscheinen mussten, einen Tageslohn. Lange Verfahren führten in den finanziellen Ruin. Aber seit einem Erlass der Zentralregierung gab es inzwischen vierzehnhundert Schnellgerichte überall im Land, die den massiven Überhang unbearbeiteter Fälle abbauen sollten. In Mumbai flatterten die Eilgerichtsurteile so schnell, dass die noch anhängigen Prozesse innerhalb von drei Jahren stadtweit um ein Drittel geschrumpft waren. Auch die meisten öffentlichkeitswirksamen Fälle, sogar organisierte Kriminalität, gingen direkt ins Eilverfahren, denn gerade bei denen erwartete die Öffentlichkeit schnelle Urteile. Aber zu solchen medienträchtigen Prozessen, bei denen Fernseh-Ü-Wagen vor den Gerichtsgebäuden auffuhren, kamen noch Tausende kleiner ohne Nachrichtenwert, zum Beispiel der gegen die Husains.
Jemand namens P. M. Chauhan war zum Richter bestellt, also zuständig für die Entscheidung, ob Karam und Kehkashan ihre Nachbarin genötigt hatten, sich selbst anzuzünden. Abduls Verfahren war abgetrennt worden und sollte später vor einem Jugendgericht stattfinden, er sah den Saal, wo Karams und Kehkashans Prozess stattfand, nie von innen. Deshalb kam ihm ihr Prozess vor wie ozeanweit entfernt, und wenn seine Schwester ihm noch so viel erzählte
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