Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
ziehen sollte.
Eine Stadt, in der ausländische Touristen von Terroristen ermordet werden, ist kein Ort, an dem andere ausländische Touristen gern Winterurlaub machen. Für Annawadi würde dieser Winter keine Spitzensaison werden. Am Flughafen würde Ruhe herrschen und in den Hotels Leere. Nur sehr wenige Partygäste würden in den 1 . Januar hinein feiern und »glückliches neues Jahr« rufen.
In der Tat hielt das Jahr 2009 stattdessen in einen dichten Armutsschleier gehüllt Einzug in Annawadi, und die globale Rezession war überlagert von einer Angstkrise. Immer mehr Bewohner mussten wieder lernen, sich von Ratten zu ernähren. Sonu beauftragte Sunil, im Slum Naupada Frösche zu fangen, die Frösche aus Naupada schmeckten besser als die aus dem annawadischen Klärteich. Der gestörte Müllsucher, der mit den Luxushotels redete, bezichtigte das Hyatt nicht mehr, Mordpläne gegen ihn zu schmieden, sondern flehte jetzt die blaue Mattglasfassade an: »Ich arbeite so viel, Hyatt, und ich verdiene so wenig. Willst du nicht für mich sorgen?«
Eines Januarnachmittags ging Sunil in einer aufgegebenen Grube bei der Zementmischfabrik baden. Er schob die Algen beiseite und betrachtete ausführlich sein Spiegelbild. Er war jetzt doch ein Dieb geworden, und laut Sonu sah man ihm das am Gesicht an.
Sunil wusste genau, was sein Freund meinte. Er hatte selbst gesehen, wie sich bei anderen Jungen die Gesichter verändert hatten, nachdem sie sich aufs Stehlen verlegt hatten – und Security-Leute erkannten so was in Sekundenschnelle. Er fand, dass er aussah wie immer: derselbe große Kindermund, die breite Nase, der eingefallene Brustkorb. Dieselben dichten Haare, die in alle Richtungen standen, aber wenn er an seine Schwester dachte, gab es daran nichts auszusetzen. Sie waren beide immer wieder im Schlaf von Ratten gebissen worden, und aus den Bissen waren Beulen geworden. Aber Sunita hatte neuerdings eine Glatze, denn bei ihr waren die Beulen voller Würmer gewesen und aufgeplatzt.
Sonu wollte Sunil noch immer von seiner neuen Erwerbsmethode abbringen und hatte ihm deshalb schon vier saftige Ohrfeigen verpasst. Sunil schlug nicht zurück, aber er ließ sich auch nicht umstimmen. Sonu war bestimmt der tugendhafteste Junge in ganz Annawadi, er hatte allerdings auch eine Mutter und jüngere Geschwister, die mit Jobs die Haushaltskasse aufbesserten. Sunil konnte mit Müllsuchen auf seinem Flughafenterrain nicht mal sich selbst ernähren, er musste neue Wege gehen, und dabei waren ortsansässige Hehler gern behilflich. Für seinen ersten Soloeinsatz beschaffte ihm einer der Diebe, ein streitsüchtiger Teenager, der selbst eine wurmglatzige Schwester hatte, ein Fahrrad für eine eventuell nötige Hochgeschwindigkeitsflucht. Am nächsten Morgen war die Flughafenfeuerwehr die Kupferventile ihrer Wasserschläuche los. Der Spielbudenmann lieh ihm seine Schneidwerkzeuge, und unter Dutzenden Betongullydeckeln verschwanden die eisernen Halterungen. Als die Bauarbeiter ein verzweigtes Parkhaus im Flughafen fast fertig zur Eröffnung hatten, montierte Sunil alles Mögliche ab, Schraube für Schraube.
Er war bestens gerüstet für seine Tätigkeit als New-Economy-Mikrosaboteur. Sein Klettergeschick hatte auf den Kokospalmen der Airport Raod den letzten Schliff bekommen, seine geringe Körpergröße eignete sich gut, um Argwohn zu zerstreuen, und er scheute kein Risiko, solange es sich berechnen ließ, so wie damals, als er den Sprung auf den müllübersäten Betonsims über dem Mithi gewagt hatte. Das einzige Problem war, dass ihm jedes Mal, wenn er ein Stück Metall aufhob, die Hände und die Beine zitterten – ein nervöser Tic, den die anderen Diebe zum Schreien komisch fanden.
Einer von ihnen, Taufeeq, quengelte seit einem Monat ständig: »Geh’n wir heut Nacht endlich zum Taj?« Taj war für Annawadi-Jungen nicht das Hotel, auf das die Terroristen den Anschlag gemacht hatten. Ihr Taj war der gleichnamige Catering-Betrieb in einem geduckten Gebäude auf dem Flughafengelände, der allerdings zur Hotelkette gehörte. Hinter seinen hohen, mit Stacheldrahtrollen belegten Steinmauern wurden die Menüs produziert, die die Fluggäste später serviert bekamen. Erst vor kurzem hatte Sunil orangefarbene Netze und Eisengerüste entdeckt, sie wuchsen langsam höher als die Mauer: ein Indiz, dass da drin gebaut wurde, also Metall herumlag, das man mitgehen lassen konnte.
Kalu war früher immer über den Stacheldraht geklettert, um die
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