Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
wurde Mumbai geradezu überschwemmt. Im Ausland lebende Inder kamen ab November zum Diwali-Fest. Europäer und Amerikaner kamen im Dezember, Chinesen und Japaner kurz danach. In den Hotels und am Flughafen war bis Ende Januar Hauptsaison. Die Reisewelle, sagten sich die Annawadier, würde die Verluste durch den Monsun und die Rezession schon wieder ausgleichen.
Eines Abends Ende November stand Sunil nach einem ertragsarmen Mülltag in der Spielbude und sah zwei Jungen zu, die an einer der roten Konsolen Metal Slug 3 spielten. Auf dem Bildschirm kämpften Guerrilleros in den Straßen einer zerbombten Stadt gegen Polizisten und Hummer-Mutanten. Draußen vor der Bude wurden die Gespräche anderer Annawadier immer lauter. Irgendwann merkte Sunil, dass die Erregung nicht vom üblichen Erase-X-Mist kam. Die Leute drängelten sich vor dem Fenster der Wohnhütte des Spielbudenbesitzers und starrten auf die Nachrichten in seinem Fernseher. Muslimische Terroristen aus Pakistan waren mit Gummibooten am Strand von Mumbai gelandet und marodierten in der Stadt herum.
Die Dschihadis hatten zwei Luxushotels gekapert, das Taj und das Oberoi, und Arbeiter und Gäste massakriert. Auch im Leopold Café waren Menschen umgebracht worden, und vom größten Bahnhof der Stadt kamen Meldungen über mehr als hundert Tote. Es dauerte nicht lange, und das Foto eines der Terroristen füllte den ganzen Bildschirm. Schwarzes T-Shirt. Rucksack. Laufschuhe. Er sah aus wie ein Collegestudent, bis auf die Maschinenpistole.
Die Überfälle fanden knapp dreißig Kilometer entfernt von Annawadi im reichen Mumbaier Süden statt – für Sunil beruhigend weit weg. Er wurde neugierig, als es im Fernsehen hieß, die Terroristen hätten womöglich auch Bomben. In Bomberman, seinem zweitliebsten Videospiel, waren Bomben immer schwarz und rund und hatten lange Lunten, die schon zischten. Und wenn die explodierten, kam Zirkusmusik.
Aber auch ein Taxi war in die Luft gejagt worden, in der Nähe der Airport Road, und ältere Jungen sagten, der Flughafen selbst sei ein logisches Anschlagsziel. Manju grübelte, wenn die Terroristen in Fünf-Sterne-Hotels in der Mumbaier Altstadt eingedrungen waren, dann könnten sie sich auch auf den Weg zu den Fünf-Sterne-Hotels am Flughafen machen. Und kamen dabei womöglich durch Annawadi. Gnädigerweise wurde ihre Zivilschutzeinheit in derartigen Krisenlagen nicht eingesetzt. Manju ging in die Hütte und schloss die Tür.
Abduls Eltern hatten Angst, es ihr gleichzutun. Wenn die annawadischen Hindus nun auf die Idee kamen, die Muslime in ihrem Slum seien Teil irgendeines Komplotts? Karam Husain sperrte die Tür weit auf und schaltete den Fernseher an. Abdul bedeckte seinen Kopf mit einem Tuch, und einer seiner kleinen Brüder hockte sich dicht vor den Fernseher. Der Kleinere fand die Architektur des alten Mumbaier Kolonialviertels wunderschön – die roten Türmchen am Hotel Taj hinter den Reportern, die verschnörkelte Bahnhofsfassade. Hier in Annawadi sah jede Hütte ein bisschen aus wie die Familie, die sie hochgezogen hatte. Diese Altstadt von Mumbai dagegen kam ihm sogar im Belagerungszustand noch majestätisch ebenmäßig vor – »als hätte ein einziges Hirn sich das Ganze ausgedacht«.
Am nächsten Morgen brachen Sunil und Sonu, der Zwinkerer, ganz früh zur Arbeit auf und mussten feststellen, dass Müllsuchen heute nicht in Frage kam. Das Flughafengelände war weitläufig abgeriegelt, auf der Airport Road standen Trupps von Elitesoldaten mit langen schwarzen Gewehren. Die beiden Jungen liefen zurück nach Annawadi, zum Fernseher des Mannes mit der Spielbude. Im Hotel Taj hatte es gebrannt, Terroristen und Touristen waren immer noch drin, und der Nachrichtensprecher sagte, dass die dramatischen Ereignisse auf der ganzen Welt verfolgt würden. Vor dem Hotel standen gutgekleidete Leute, wischten sich Tränen aus den Augen und erzählten Reportern, wie viel ihnen das Taj bedeutete.
Sunil begriff, dass diese reichen Leute trauerten, weil jetzt ein Ort verwüstet war, an dem sie sich hatten entspannen und sicher fühlen können. Sein eigenes Pendant dazu war diese neun Quadratmeter große Spielbude, hier weinte niemand über die Belagerung der Mumbaier Altstadt oder die Hunderten von Toten und Verletzten. Die Slumbewohner hatten ihre eigenen Sorgen. Als der Anschlag beendet war, sechzig Stunden nachdem er begonnen hatte, sahen die Annawadianer korrekt vorher, welche Kette von wirtschaftlichen Folgen er nach sich
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