Anne auf Green Gables
Sands ankamen, war das Hotel bereits hell erleuchtet. Eine der Damen vom Wohltätigkeitsverein führte Anne gleich in die überfüllte Künstlergarderobe. Unter all den schillernden Persönlichkeiten aus der Stadt kam sich Anne jedoch plötzlich ganz klein und unbedeutend vor. Gegenüber den wertvollen Seidenstoffen, die überall um sie herum glänzten und raschelten, erschien ihr das weiße Kleid, das im Ostgiebel von Green Gables noch so hübsch und elegant gewirkt hat, auf einmal entsetzlich schlicht und unscheinbar. Was war ihre Perlenkette schon gegen die strahlenden Diamanten der großen Damen neben ihr? Und wie armselig wirkte ihre kleine weiße Rose im Vergleich zu den üppigen Blumenbuketts, die die anderen trugen! Anne legte ihren Hut und ihre Jacke ab und versteckte sich niedergeschlagen in einer dunklen Ecke. Inständig wünschte sie sich in ihr kleines Zimmer auf Green Gables zurück.
Auf der Bühne des großen Hotelsaales, auf der sie sich bald wiederfand, wurde ihr noch banger zu Mute. Das elektrische Licht blendete ihre Augen, das Parfüm und das laute Gemurmel um sie herum verwirrten ihre Sinne. Wie gerne würde sie jetzt bei Diana und Jane im Zuschauerraum sein und den Abend in Ruhe genießen können! Eingezwängt zwischen einer fülligen Dame in einem rosa Seidenkleid und einem großen, verächtlich dreinblickenden Mädchen in weißen Spitzen, saß Anne ängstlich da. Die füllige Dame drehte sich gelegentlich zur Seite und unterzog Anne durch ihre Brille einer so eingehenden Prüfung, dass Anne das Gefühl hatte, jeden Moment laut aufschreien zu müssen. Währenddessen unterhielt sich das Mädchen in weißen Spitzen lautstark mit ihrer Nachbarin über die »Bauerntölpel« und »Dorfschönheiten« im Publikum und sagte mit betont gelangweilter Stimme, die Darbietungen ländlicher Talente würden sicherlich »recht amüsant« werden. Anne meinte dieses Mädchen in seinen weißen Spitzen bis an das Ende ihres Lebens hassen zu müssen.
Zufälligerweise hielt sich gerade eine richtige Schauspielerin in White Sands auf. Sie hatte zugesagt, ebenfalls ein Gedicht vorzutragen. Die anmutige, dunkeläugige Frau trug ein wundervolles Gewand aus schimmernder grauer Seide - wie gewebte Mondstrahlen, dachte Anne - und glitzernde Juwelen. Sie hatte eine hervorragende Stimme und eine starke Ausdruckskraft. Das Publikum war begeistert und auch Anne vergaß einen Moment lang all ihre Ängste und lauschte mit leuchtenden Augen ihrem Vortrag. Doch als der Applaus einsetzte, vergrub Anne ihr Gesicht in den Händen. Nach diesem Vortrag konnte sie nicht auf die Bühne treten - nie und nimmer! Hatte sie wirklich jemals gedacht, sie könnte Gedichte vortragen? Ach, wenn sie doch nur schon wieder zurück auf Green Gables wäre!
Genau in diesem Moment wurde ihr Name aufgerufen. Wie in Trance stand Anne auf. Sie war so blass, dass sich Diana und Jane unten im Zuschauerraum vor Aufregung und Mitgefühl an der Hand fassten.
Anne hatte ganz entsetzliches Lampenfieber. So oft sie auch schon in der Öffentlichkeit aufgetreten war — vor einem solchen Publikum hatte sie noch nie gestanden. Ein einziger Blick hinunter in den Zuschauerraum genügte, um ihr die letzte Kraft zu rauben. Es war alles so fremd hier, so vornehm, so verwirrend: die langen Reihen von Damen in Abendkleidern, ihre erwartungsvollen Gesichter, die ganze Atmosphäre von Reichtum und Kultur, die sie um sich verbreiteten. Wie anders waren dagegen doch die Vortragsabende im Debattierclub gewesen - auf den schlichten Holzbänken hatte sie nur vertraute Gesichter von Freunden und Nachbarn gesehen. Hier jedoch würde sie auf gnadenlose Kritiker stoßen. Vielleicht waren sie alle - wie das Mädchen in den weißen Spitzen - nur darauf aus, sich über die »ländlichen Talente« lustig zu machen. Anne schämte sich, sie fühlte sich hilflos und unglücklich. Ihre Knie zitterten, ihr Herz pochte heftig und eine furchtbare Schwäche überkam sie. Kein Wort würde sie über die Lippen bringen! Am besten flog sie jetzt gleich von der Bühne, auch wenn dies eine schreckliche Niederlage bedeuten würde. Plötzlich fiel ihr unruhiger, ängstlicher Blick auf Gilbert Blythe, der im hinteren Teil des Zuschauerraumes saß und sie lächelnd anschaute - ein triumphierendes, höhnisches Lächeln, dachte Anne. Neben ihm saß Josie Pye und sah ebenfalls gespannt auf die Bühne. Annes Körper straffte sich. Sie nahm einen tiefen Atemzug und hob stolz den Kopf. Vor Gilbert Blythe
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